Niedersächsische Landesregierung will Ursachen für die Häufung der Erkrankungen bei Atommüll-Lager herausfinden

Hannover. Aus der Sicht der Bundesregierung ist die deutlich erhöhte Zahl der Krebskranken rund um das marode Atomendlager Asse nur eine Zufälligkeit. Die niedersächsische Landesregierung aber will es sich so einfach nicht machen: Sozialministerin Aygül Özkan (CDU) kündigte gestern im Landtag in Hannover nicht nur an, dass das Land eine Meldepflicht für Krebsfälle einführen will. Nachdem die Statistiker durch eine Detailbetrachtung der Samtgemeinde Asse der Krankheitshäufung auf die Spur gekommen sind, sollen nun auch in anderen Regionen, etwa im Umfeld von Atommeilern, die Häufigkeitszahlen bei Krebserkrankungen auch auf Gemeinde- und nicht nur auf Kreisebene erhoben werden.

Zusätzlicher Sprengstoff in der Debatte dürfte sein, was die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW inzwischen herausgefunden hat. Statistische Berechnungen belegen laut IPPNW für das direkte Umfeld der Asse im Landkreis Wolfenbüttel eine auffällig geringe Zahl neugeborener Mädchen. In den Jahren 1971 bis 1979, als dort der Atommüll angeliefert wurde, hätten auf 105 Jungen 100 Mädchen geboren werden müssen. Tatsächlich waren es 142 Jungen und nur 105 Mädchen. Die Ärzteorganisation warnte, ähnliche Befunde gebe es im Umfeld anderer deutscher Atommeiler, aber dies gelte auch für Tschernobyl nach dem Reaktorunfall.

In der Samtgemeinde Asse sind in den vergangenen Jahren mehr als doppelt so viele Männer an Leukämie erkrankt wie im Landesschnitt, bei Schilddrüsenkrebs erkrankten dreimal so viele Frauen wie erwartbar. Das Bundesumweltministerium kommentierte das mit dem Hinweis, solch höhere Krankheitsraten auf der Basis nur von Gemeinden unterlägen "zwangsläufig starken statistischen Schwankungen". Für die niedersächsische Sozialministerin Özkan aber ergeben die Auswertungen "jetzt erstmals statistisch belastbare Hinweise auf ein gehäuftes Auftreten bestimmter Krebserkrankungen".

Auch auf vielfache Nachfrage der Oppositionsabgeordneten wollte sie sich gestern nicht auf eine wahrscheinliche Ursache festlegen: "Ich schließe weder das eine noch das andere aus." Aber sie sieht Handlungsbedarf, um genau dies herauszubekommen: "Es bedarf zunächst einer gründlichen Sachverhaltsaufklärung, wir brauchen wissenschaftlich fundierte Daten."

Eine Arbeitsgruppe von Landesbehörden, Landkreis Wolfenbüttel, aber auch dem Bundesamt für Strahlenschutz arbeitet genau daran, bereits Mitte Dezember soll ein erster Bericht mit Informationen über die benachbarten Gemeinden vorgelegt werden. Alle Anwohner der Asse mit Krebserkrankungen sind aufgerufen, sich bei den Gesundheitsbehörden zu melden.

Zur Ursachenforschung gehört zwingend auch Kenntnis über Alter, Geschlecht, Beruf und genauen Wohnort betroffener Personen. Einer künftig schnelleren Ursachenforschung dient auch der Vorstoß der Ministerin, eine Meldepflicht bei solchen Krankheiten einzuführen.

Grünen-Fraktionschef Stefan Wenzel forderte im Landtag eine gründliche Untersuchung möglicher Strahlenunfälle in dem einsturzgefährdeten ehemaligen Salzbergwerk: "Der damalige Betreiber hat viele Störfälle bis 2008 verschwiegen." Bis Ende 2008 war das Helmholtz-Zentrum München Betreiber des Endlagers. Nach einer ganzen Serie von Pannen und Verstößen gegen die Strahlenschutzverordnung wurde es dann durch das Bundesamt für Strahlenschutz abgelöst.

Das Bundesamt teilte nach Bekanntwerden der Leukämiefälle mit, auf der Basis umfangreicher Messungen könne man eine Gesundheitsgefährdung ausschließen. Das Amt schränkte dies dann aber ein: "Das Amt kann diese Feststellung nur für die Zeit seit Übernahme der Verantwortung im Januar 2009 treffen."

Zwischen 1967 und 1978 sind in der Asse rund 126 000 Fässer mit schwach und mittelaktivem Müll eingelagert worden. Das Bergwerk ist einsturzgefährdet, es gibt seit Jahrzehnten Wasserzutritte. Weil ein Absaufen der Grube droht, bereitet das Bundesamt als Betreiber jetzt die Rückholung des gesamten Mülls vor, aber auch eine Notfallplanung für den Fall unkontrollierbarer Wasserzutritte. Erst vor wenigen Monaten hat sich herausgestellt, dass entgegen allen bisherigen Angaben nicht 1300 Fässer mit mittelaktivem Müll dort lagern, sondern fast 15 000.