Die meisten Menschen reagieren gelassen auf die schlimmste Gewalttat seit 33 Jahren. Zwei Männer sind in Haft, einer ist geständig.

Vorbei an alten Villen aus der Seebadzeit vergangener Jahrhunderte und Betonklötzen, die ehrwürdige Hotelnamen tragen. Vorbei an Straßen, die wie eine Alsterdorf-Kopie wirken, an dichten Wohnwagensiedlungen. Hinein in den schmalen stacheldrahtgesicherten Pfad, der durch einen Streifen Dünenwald aus windgebeugten Kiefern führt. Dann steht man vor dem rot-weißen Absperrband mit der Aufschrift "Polizei". Leuchtend violette Kreise ziehen sich neben Hasenkötel über den schneeweißen Boden. Farbspray, mit dem die Ermittler Mitte der vergangenen Woche Fuß- und Schleifspuren des erschlagenen Opfers und seiner Täter kennzeichneten. Eine Tat, die eigentlich nicht außergewöhnlich ist. Nur der Tatort ist es: die Nordseeinsel Norderney. Seit Jahrzehnten hatte es dort kein vergleichbares Verbrechen gegeben.

Beim Spielen hatten vier Kinder den leblosen Körper eines 68-Jährigen gefunden. "In der Zeitung steht, die Menschen haben Angst", sagt eine Tagesurlauberin aus Dortmund mit blondiertem Kurzhaarschnitt beim Rauchen vor der Pensionstür. "So ein Fall ist wohl nicht so normal wie bei uns. Oder in Hamburg."

Die Inselblätter haben sich auf den Fall gestürzt. Während der grauen Wintermonate passiert sonst nicht viel. Täglich laufen neue Erkenntnisse aus dem Leben des 68-Jährigen über Druckerband und Äther. Von der Angst auf Norderney hört und liest man. Vom Täter, der sich auf der Insel verstecken soll. Davon, dass die Polizei die Kontrollen am Hafen eingestellt habe, und keiner wisse warum. Und davon, dass die Inselbewohner ihre Türe nachts wieder verschließen würden.

Norderney: vor knapp 200 Jahren zum ersten deutschen Nordseebad ernannt. 14 Kilometer lang, knapp 25 Quadratkilometer Land, inmitten der des deutschen Wattenmeeres, den Gezeiten ausgesetzt. An einer Hand lässt sich die Zahl schwerer Straftaten in den vergangenen Jahrzehnten abzählen. 33 Jahre liegt der letzte Mord auf Norderney bereits zurück. 1977 starb die Leiterin des örtlichen Kinderheims. Ein verschmähter Liebhaber entführte, misshandelte und vergewaltigte die Frau. Sie wurde später erwürgt aufgefunden.

Die heile Inselwelt, gibt es sie noch? "Es ist schon abenteuerlich, wie die Zeitungen mit null neuen Infos jeden Tag ganze Seiten füllen", wundert sich Frank Ulrichs im ersten Stock des mit Modellen alter Koggen geschmückten Rathauses. "Ob Mord oder Totschlag, durch die Tat wird sich gar nichts ändern. Wir haben unsere Türen vorher auch abgeschlossen. Diese Idylle ist lange passé." Der stellvertretende Bürgermeister ist abgeklärt. "Keiner hat wirklich Angst." Es herrsche eine gewisse Beunruhigung, ja. Aber der Fall stehe völlig außer der Tagesordnung.

Und Tagesordnung, das seien die Touristenmassen und alles, was die mit sich brächten, ergänzt der hiesige Polizeichef Axel von der Osten, mit einer Stimme so rau und kräftig wie der Wind, der über die Insel fegt. "Wir sind halt eine Urlaubsinsel." Rund 13 000 ständige Inselbewohner gibt es - und pro Jahr kommen 400 000 Besucher. Selbst im Winter dreht sich alles um den Tourismus, wenn Handwerker den Inselstaat bevölkern: Auf- und Ausbauarbeiten für die im Frühling nahende Besucherwelle.

"Und wenn 400 000 Menschen auf einer Insel mit der Größe einer Kleinstadt aufeinanderprallen, dann kommt es halt zu Konflikten", sagt der Polizist. Diebstähle, Prügeleien, Streitigkeiten. Angesprochen auf die niedrige Rate schwerer Verbrechen, erhebt sich von der Ostens Stimme zum mittleren Orkan. "Wir sind eine ganz normale Dienststelle." Hier passiere nicht mehr und nicht weniger als anderswo. Nur soziale Brennpunkte wie in Hamburg die Schanze "ham wir hier nich", sagt der 57-jährige Hauptkommissar und beugt sich gefährlich vor.

Elf Polizisten sind im Winter im Dienst, darunter zwei Kriminalbeamte. Im Sommer sind es über 20. Für je vier Wochen werden Kollegen aus allen niedersächsischen Revieren auf die Insel berufen.

Wo für von der Osten die Berufsehre anfängt, das erklärt Bürgermeister Ulrichs etwas flachs: "Wir sind halt von Wasser umgeben. Und wenn jemand etwa eine Bank überfallen würde, dann müsste er ja danach erst noch auf die Fähre warten." Völlig unsinnig - aus Verbrechersicht.

Nun aber ein Mord. Wer war der Tote? "Er hat über dem Konsum gewohnt", sagt eine 54-Jährige, die durch den Wald fährt. Sie meint den Edeka. "Ich sag immer noch Konsum", korrigiert sie schmunzelnd, zeigt auf eine Weggabelung zwischen den gekrümmten Bäumen. Von ihrer Küche könne sie in seine Wohnung gucken. "Aber ich weiß nicht, wie der hieß. Ich habe nicht mal sein Gesicht vor Augen." Ihr Mann habe bereits eine Aussage gemacht. "Lasst mich in Ruhe", habe jemand in der Nacht geschrien. Nachbarn hätten Ähnliches gehört. Für sie ist der Fall klar: ein tödliches Beziehungsdrama. Ein ausufernder Streit zwischen dem augenscheinlich homosexuellen Gastronomen aus Hessen, der sich wohl auf der Insel zur Ruhe setzen wollte, und seinen jungen Liebhabern, wie bereits in der örtlichen Presse zu lesen. Das gehe sie übrigens nichts an.

Und wenn die Täter noch auf der Insel sind? "Ich glaub nicht, dass sie ihn kaltblütig erschlagen haben und dass sie jetzt alle reihenweise abschlachten wollen", sagt sie mit einer Sicherheit, die an ostfriesische Sturheit grenzt. Die Tat sei wohl eher im Affekt geschehen. "Warum legt man ihn dann mitten auf dem Weg ab, wo ihn jeder Mensch finden kann?"

Fenster und Klingel sind abgepudert, die Türklinke mit Klebeband abgeklebt - Spuren der Ermittler an der Haustür des Erschlagenen. "Eigentlich ist das hier der schönste Ort, um Kinder großzuziehen", sagt Miriam Reising. Das Meer, die Ruhe, die Natur. Doch in den nahen Dünenwald traut sie sich nur noch mit Luna, ihrem Hund, und abends gar nicht mehr. "Ich habe Respekt. Man rechnet ja mit allem, aber mit so etwas nicht. Es kann jeder gewesen sein", sagt die 25-jährige Zahnarzthelferin im Mutterschutz, während Freundin Antje Tochter Leonie aufmerksam im Auge behält. Dann verschwinden sie in Richtung Tatort. Das Opfer kannten sie genauso wenig wie die anderen Einheimischen. "Keine Ahnung, ein Zugezogener, glaube ich." Und genauso wenig wie Vize-Bürgermeister Ulrichs: "Der war hier gar nicht gemeldet. Ich könnte Ihnen nicht mal den Namen sagen." Es scheint, als sei der Tote für die Menschen hier weit weg - wie die Touristen. Er war ein Insulaner, aber kein Norderneyer. Keiner, der hier geboren war.

Ein Spuk, der zu diesem Zeitpunkt längst wieder vorbei ist. Denn was an diesem Sonnabendmittag noch keiner ahnt und die Fahnder erst am Abend bekannt geben werden - der Fall ist gelöst. Am frühen Morgen hat die Polizei zwei Männer festgenommen, 21 und 24 Jahre alt. Zwei, die auf der Insel gearbeitet und eine "Vorbeziehung" zum Toten hatten, wie es der Staatsanwalt in Aurich formuliert. Kurz nach der Tat waren sie mit der Fähre geflüchtet und hatten sich versteckt. Einer ist geständig. Während sie verhört werden, kehrt auf Norderney wieder Ruhe ein. Sofern das auf einer Touristeninsel geht.