Nach Hinweisen auf eine Beteiligung der Rockergruppe Bandidos könnte der Nazi-Aufmarsch am 27. März zu einem Vier-Fronten-Kampf werden.

Lübeck/Hamburg. Der Kampf um die Straße beginnt an einem regnerischen Sonntagnachmittag. René Lessin sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Fußboden und umklammert seine Oberschenkel. Er ist jetzt ein "praktisches Päckchen", wie er es selber nennt. Ein kompakt zusammengefalteter Mensch, schwer, unbeweglich und mit wenig Angriffsfläche.

Lübeck, das Gemeindehaus der St.-Lorenz-Kirche direkt hinter dem Hauptbahnhof. Während Lessin in einem Kreis von Menschen kauert, trommelt draußen der Regen an die Fensterscheiben. "Das hier ist leicht zu machen, aber es ist genauso leicht für die Polizei, euch dann wegzutragen", sagt er und linst unter seiner Hutkrempe in die Runde. "In jedem Fall bleibt man so auf der niedrigsten Eskalationsstufe." Die Runde nickt. Sitzblockade für Anfänger, Lektion Nummer eins.

René Lessin, 26 Jahre alt und im wirklichen Leben Kindergärtner, leitet ein "Aktionstraining". Den rund 20 Lübeckern, die um ihn herumstehen, bringt er bei, wie sie gewaltfrei eine Straße blockieren. Anwendung soll das am 27. März finden, wenn wieder rund 200 Rechtsradikale durch die Straßen der Hansestadt ziehen wollen. Ihr "Trauermarsch" soll an die Bombardierung der Stadt durch die Alliierten im März 1942 erinnern, der deutschen Opfer gedenken, Angehörige der Waffen-SS ehren. Zum fünften Mal in Folge. Seit 2006 ist Lübeck deshalb einmal pro Jahr im Ausnahmezustand: Geschäfte und Restaurants entlang der Marschroute bleiben geschlossen, Menschen trauen sich nicht aus den Häusern. Und jedes Jahr versucht ein Bündnis aus Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und Verbänden, den Weg der Rechten durch Gegendemonstrationen zu blockieren. "Wir können sie stoppen" lautet das Motto. Lessin war bisher jedes Mal dabei.

2010 aber rüstet sich Lübeck nicht mehr nur gegen den Aufmarsch der rechten Szene, sondern möglicherweise auch gegen einen regelrechten Vier-Fronten-Kampf. Denn auch der blutige Konflikt zwischen den rivalisierenden Rocker-Banden Hells Angels und Bandidos könnte am 27. März in Lübeck seine Fortsetzung finden. "Der Polizei sind Gerüchte bekannt, nach denen die Bandidos ihre Sympathisanten zu einer Teilnahme am Aufmarsch aufgefordert haben", sagte Lübecks Innensenator Thorsten Geißler (CDU). Vor allem im Internet seien die Beamten auf Hinweise gestoßen.

Eine mögliche Provokation für die Hells Angels: Sie haben im Januar dieses Jahres im Lübecker Stadtteil Dänischburg offiziell einen Stammsitz bezogen und die Hansestadt damit quasi zu ihrem Hoheitsgebiet deklariert.

Auf ihrer Internet-Seite bestreiten die Bandidos jedoch, zur Teilnahme an "irgendwelchen Trauermärschen" Rechtsextremer aufgerufen zu haben. Sie seien "unpolitisch" und würden sich nicht an rechten oder linken Aktionen beteiligen. Wie weit die Beschreibung "unpolitisch" tatsächlich reicht, könnte jedoch hinterfragt werden. "Nach unseren Kenntnissen ist mindestens ein ehemaliger NPD-Funktionär bei den Bandidos untergetaucht", sagte Lübecks Innensenator Geißler. Gemeint ist Peter Borchert, Ex-NPD-Chef Schleswig Holsteins.

Die Gerüchte um ein mögliches Auftauchen der Bandidos am 27. März haben die Diskussion um ein Verbot des Aufmarsches erneut angefacht. Bislang hatte er mit Hinweis auf die Versammlungsfreiheit juristisch nicht verhindert werden können. Wenn jedoch die Gefahr besteht, dass sich bewaffnete Rocker unter die Demonstranten mischen, sieht die Sachlage möglicherweise anders aus. "Das ist dann eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit", sagt Luise Amtsberg, rechtsextremismuspolitische Sprecherin der Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag. "Dann muss man den Aufmarsch ganz verbieten." Lübecks Innensenator Geißler stellt jedoch klar, dass es bislang keine verwertbaren Beweise gebe, "die ein solche Verbotsverfahren stützen könnten".

Die Rechtsradikalen mobilisieren ihre Teilnehmer für den "Trauermarsch" vor allem im Verborgenen und über das Internet. Nach Abendblatt-Informationen soll es sich bei ihrem Versammlungsleiter um Thomas Wulff handeln, einen der bekanntesten deutschen Neonazis und Mitglied im Parteivorstand der NPD. "Eine Persönlichkeit wie Wulff besitzt eine gewisse Prominenz und Durchschlagskraft", so Grünen-Politikerin Amtsberg. "Das könnte mehr Leute anlocken als sonst. Sowohl auf Seiten der Rechtsradikalen als auch bei den linken Gegendemonstranten." Dabei sei die Anziehungskraft der Demonstration ohnehin hoch. "Es handelt sich um einen der größten und wichtigsten Aufmärsche Rechtsradikaler in Norddeutschland", so Amtsberg, "und er genießt mittlerweile leider auch schon eine gewisse Tradition".

Mehr als 2000 Polizeibeamte werden den "Trauermarsch" und die Gegendemonstrationen flankieren - der größte Einsatz in der Geschichte der Hansestadt. "Wir bereiten uns auf den Tag vor und werden die verschiedenen Veranstaltungen auseinanderhalten", sagte ein Sprecher der Polizei.

In Lübeck ist ein Kampf um die Straße entbrannt: Rechte, Linke, Bürgerbewegungen und möglicherweise rivalisierende Rockergruppen - alle werden am 27. März ihren Platz einfordern. Aktionstrainer René Lessin und seine Leute setzen dabei auf absoluten Gewaltverzicht. "Bei Eskalation brechen wir sofort ab." Entlang der Marschroute der Rechtsradikalen hat das Bündnis vier "Blockadepunkte" bestimmt, an denen es dem Aufmarsch den Weg abschneiden will.

Obwohl beim Aktionstraining die meisten Teilnehmer um die 20 Jahre alt sind und einen dunklen Kapuzenpullover tragen, versuchen sich auch Ältere im "praktischen Päckchen" - so wie Imke Akkermann-Dorn (50). Sie glaubt "dass diese Form des Protests auch in bürgerlichen Kreisen angekommen ist." So bürgerlich wie der Stadtteil St. Lorenz hinter dem Hauptbahnhof. Viele Bäume, Reihenhäuser. Blockadepunkt Nummer eins liegt direkt mittendrin.