Hingeschaut: Auf Schritt und Tritt - kein Ort in Deutschland wird so intensiv überwacht wie das Altländer Viertel

2000 Bewohner, 400 Kameras - die kalten Augen von Stade

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Vanessa Seifert

Vandalismus, Raub und Einbrüche gingen deutlich zurück. Die einen sehen ihren Traum von hoher Sicherheit erfüllt, die anderen ihren Albtraum vom Überwachungsstaat.

Stade. Frau Schmitt grüßt. Jedes Mal, wenn sie aus ihrer Wohnung im dritten Stock ins Treppenhaus tritt. Sie nickt und lächelt. Manchmal winkt sie. Oder sie formt mit den Fingern das Victory-Zeichen. Doch im Flur ist kein Mensch. Frau Schmitt grüßt nicht die Nachbarin. Sie grüßt die Überwachungskamera.

"So gehe ich eben damit um", sagt Rebecca Schmitt (28) und streichelt über ihre braune Winterjacke, die sich über ihrem Babybauch wölbt. Damit, dass sie seit einem knappen halben Jahr beäugt wird. Von Kameras, die eingefasst in Halbkugeln aus braun getöntem Glas, aus den Wänden starren, aktiviert durch Bewegungsmelder. Vor dem Hauseingang, im Treppenhaus, in jedem einzelnen Stockwerk, sogar vor den Müllcontainern im Hof.

Frau Schmitt ist eine Darstellerin in ihrem eigenen Leben. Genau wie die knapp 2000 anderen Menschen, die im Altländer Viertel, einer Hochhaussiedlung aus den späten Sechzigerjahren, am Rande der niedersächsischen Kleinstadt Stade leben. Gecastet wurden sie nie. Gefragt auch nicht, sagt Frau Schmitt: "Die Eigentümer haben die Dinger einfach aufgehängt." 300 Kameras gibt es schon, 100 weitere sollen folgen. Eine Kamera auf fünf Bewohner. Hier ist er erstmals in Deutschland Wirklichkeit geworden, der Traum der Sicherheitsfanatiker und der Albtraum der Freiheitsfanatiker.

"Die Videoanlage soll die Nachhaltigkeit der durch die Wohnungseigentümerschaft mit erheblichem finanziellen Aufwand durchgeführte Sanierung der Häuser sicherstellen", heißt es bei der Hausverwaltung LT&P aus dem baden-württembergischen Fellbach, die bundesweit 1800 Wohnungen betreut. Im Altländer Viertel ist sie für 327 der insgesamt 650 Wohnungen zuständig. "Nicht zuletzt soll aber auch die Sicherheit der Bewohner erhöht werden", heißt es im nächsten Satz. Man will endlich genau hinsehen.

Lange hat im Altländer Viertel niemand so genau hingesehen. Oder immer erst zu spät. "Ein sozialer Brennpunkt ist das", sagen die Politiker. "Ein Getto", sagen die Bewohner. Hier leben Menschen aus fast 30 Nationen auf engstem Raum. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Kriminalität auch. "Hier ist viel Schlimmes passiert", sagt Hausmeister Herbert Naumann (54). Mehr will er nicht sagen. Er zieht weiter mit seiner Leiter und dem Farbeimer, vorbei an eingeworfenen Fensterscheiben, zerstörten Klingelanlagen, an denen die Drähte lose baumeln, vorbei an beschmierten Wänden. Bevor ab Januar die Kameras installiert wurden, seien jährlich Schäden in Höhe von bis zu 60 000 Euro entstanden, sagt die Hausverwaltung.

"Vandalismus ist hier das größte Problem", sagt eine Mieterin, während sie leere Wodkaflaschen aus ihrer Plastiktüte zieht und in einen Container wirft. Das elektronische Auge über ihr hat alles im Blick. "Hier wütet diese Gang, ,Terror Attack'", sagt sie. Dann zeigt sie auf ein bereits saniertes Hochhaus, dessen Außenwand ein aufgemalter Baum ziert. Blühende Landschaft ist hier Fassade. "Da wohnen die, die sich schon aufgegeben haben", sagt die Frau. "Leben von Hartz IV, trinken den ganzen Tag, und abends werden sie an der Haustür von den Jugendlichen abgezogen." Das Viertel mit Kameras zu überwachen sei kein ungewöhnlicher Schritt, meint Stades Baudirektor Christian Lübbers: "Videoüberwachung gibt es in den Luxus-Wohnungen der Reichen oder eben da, wo es Probleme gibt wie im Altländer Viertel."

"Rohheitsdelikte, Raub und Einbrüche sind hier an der Tagesordnung", sagt Polizeisprecher Detlev Schlichting-Reinecke. Mit den Kameras sei das besser geworden. Um 31,5 Prozent sei die Zahl der Straftaten seit Januar gesunken. Von 240 im vergangenen Jahr auf 141 im Vergleichszeitraum dieses Jahres. Auch der Vandalismus sei um fast 90 Prozent zurückgegangen, sagt Baudirektor Lübbers: "Vorher sind uns drei der sechs Wertstoffpavillons einfach abgefackelt worden." Ein Pavillon kostet 30 000 Euro. Knapp acht Millionen Euro hat die Stadt Stade danach schon in das Altländer Viertel investiert, davon einige Tausend in die "Zwickauer Müllschleusen". Die Restmüll-Container sind nur mit einer personalisierten Chipkarte zu öffnen. "So wird kontrolliert, welcher Bewohner wann seinen Müll entsorgt hat", sagt Frau Schmitt. Wer ein paar Monate nicht an der Tonne gewesen sei, bekomme eine Mahnung. Und später eine hohe Rechnung. "Die meisten können die sowieso nicht bezahlen", sagt sie. Der Müll landet im Garten.

"Es ist durch die Kameras sicherer geworden", sagt Mieterin Sultan Soydemir (41), die in einem kleinen Container zwischen den Hochhäusern eine Änderungsschneiderei betreibt. Außerdem sei die Kamera ein prima Erziehungshelfer. Wenn ihr kleiner Sohn im Hausflur Bonbonpapier auf den Boden fallen lasse, sage sie nur: "Der Polizist da oben sieht dich ganz genau." Ängstlich hebe ihr Sohn das Papier schnell wieder auf. "Die Kamera schüchtert vielleicht Fünfjährige ein, aber keine Halbstarken", meint Frau Schmitt. In ihren Keller sei erst vor zwei Wochen eingebrochen worden. "Na gut, aber sauberer ist es geworden", sagt Frau Soydemir. Dass sie und die anderen muslimischen Frauen ihre Kopftücher nun schon im Hausflur umbinden müssen, nimmt sie dafür in Kauf. "Früher war der Flur privat. Aber wer weiß schon genau, wer sich diese Videos ansieht?"

Von den Mietern weiß das niemand so genau. Einer glaubt, das laufe wie im Spionagefilm. "Irgendwo sitzt jemand in einer Geheimwohnung und beobachtet uns auf Schritt und Tritt." Ein anderer meint, die Kameras seien vielleicht nur Attrappen. "Die sollen uns ein schlechtes Gefühl machen."

Zwei bis drei "speziell autorisierte Personen" sichten die Aufnahmen, sagt die Hausverwaltung. Allerdings nur, wenn ein "Vorfall" gemeldet wurde. Nach einer Woche würden die Bänder wieder überspielt. "Und wenn einer dieser Hausmeister mal wieder vier Wochen im Urlaub ist, dann passiert gar nix", sagt der Frührentner Klaus Stahnke (57), der seine 60 Quadratmeter große Wohnung in der Breslauer Straße gekauft hat. Von Anfang an sei er gegen die Überwachung gewesen. "Warum soll ich mich als unbescholtener Bürger rund um die Uhr kontrollieren lassen? Ich lebe in Deutschland, nicht in einem Überwachungsstaat." Trotzdem zahlt er jeden Monat 20 Euro auf ein Betriebskostenkonto. Für die Kameras, die er nicht will. Für die Kameras, die aber fast alle anderen Eigentümer wollen. "Mehrheitsbeschluss. Da muss ich mich beugen", sagt Stahnke, während er in seiner grauen Flanellhose und den braunen Boots durch sein Viertel stapft. Alle paar Minuten ruft er: "Da ist eine Kamera. Und da auch."

Auch sein Freund Georg Meyer (59) kann nichts tun gegen die Kamera vor seiner Wohnungstür: "Es gibt leider noch keine Präzedenzfälle." Sehr schwierig sei die Rechtslage, gibt Rainer Hämmer, der Landesbeauftragte für den Datenschutz in Niedersachsen, zu. "Denn hier überwacht die Stadt Stade mit den Müllcontainern öffentlichen Raum und die Eigentümergemeinschaft die Häuser, also nicht öffentlichen Raum. Wir müssen das noch weiter prüfen." Mit triftigem Grund sei beides rechtmäßig. Hamburgs oberster Datenschützer Hartmut Lubomierski ist skeptisch: "Das ist theoretisch in Ordnung, wenn alle Mieter einverstanden sind. Allerdings betreten auch Besucher oder Handwerker, die nicht in die Überwachung eingewilligt haben, die Häuser. Das heißt, praktisch geht das eigentlich alles gar nicht."

Wegziehen will Georg Meyer trotzdem nicht. Günstiger als hier, wo er für 60 Qudratmeter knapp 350 Euro Miete zahlt, kann er nicht wohnen. Er hat ja nur seinen Ein-Euro-Job als Hausmeister im nahe gelegenen Jugendzentrum. Außerdem hat er die Wohnung gerade renoviert. Stolz zeigt er die Alpen-Panorama-Tapete im Wohnzimmer.

Rebecca Schmitt will wegziehen. "Aber hier kommt man nicht freiwillig hin und auch nicht wieder weg", sagt sie. Ihr Gesicht wird fast so rot wie die gefärbten Strähnen in ihrem kurzen schwarzen Haar. Sie hat versucht, eine neue Wohnung zu finden. Und einen Job. Schon allein für das Baby. "Aber sobald jemand hört, dass ich aus der Breslauer Straße komme, kann ich einpacken. Ich gelte als asozial." Trotzdem grüßt Frau Schmitt, als sie das Treppenhaus betritt. Sie streckt die Zunge raus. Direkt in die Kamera.