Der letzte Streckenläufer

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Hanna-Lotte Mikuteit Text

Er hat keine Kollegen und einen der einsamsten Arbeitsplätze, die man sich vorstellen kann. Uwe Bellstedt geht gern auf dem Gleis

Kühlungsborn. Ungezählte Schritte, jeder 65 Zentimeter lang. Von Schwelle zu Schwelle. Uwe Bellstedt ist wieder unterwegs. Einen riesigen Schraubenschlüssel in der Hand, den Blick prüfend nach unten, geht er über die Gleise. Vor ihm verlieren die Schienen sich in der mecklenburgischen Ferne, von hinten pfeift die Lokomotive der Schmalspurbahn "Molli". Es ist ein einsamer Weg. 15,4 Kilometer zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn, immer entlang der Ostsee, kontrolliert er die Schienen. Der 38-Jährige ist einer der wenigen Streckenläufer, die in Deutschland noch unterwegs sind - wenn nicht der einzige. "Ich kenne keinen außer mir", sagt Bellstedt. 1988 hat die Bahn in Westdeutschland die letzten 300 Beamten des einfachen Dienstes durch Messzüge ersetzt, im Osten starb der Beruf 1995. "Das ist die Technik, die ist eben billiger und besser", sagt der gelernte Gleisbauer. Es schwingt ein bisschen Wehmut mit. Bellstedt geht seine Strecke gern. Das sei sicher nicht jedermanns Sache, sagt der schweigsame, kräftige Mann, aber ihm gefällt es. An der Luft zu sein, immer weiter zu gehen, die Gedanken kommen zu lassen. Kurz vor einem Waldstück bei Heiligendamm bleibt Bellstedt plötzlich stehen. Fast acht Kilometer ist er jetzt unterwegs, Halbzeit. Zwei Gleisstränge sind hier mit einem so genannten Stoß verbunden. "Die Lasche wandert wieder", sagt er kopfschüttelnd. Dann geht er zu einem nahen Strommast und holt aus dem hohen, feuchten Gras einen schweren Hammer. Mit kraftvollen Schlägen klopft er das Verbindungsstück an seinen Platz zurück. "Die Lücke ist zu groß", sagt er und geht weiter. "Ich kenne die Schwachstellen." Seit drei Jahren geht Bellstedt jeden zweiten Freitag auf der "Molli"-Strecke. "Ein Prüfzug lohnt sich hier nicht." Schon seit er 15 Jahre alt war, arbeitet der gebürtige Rostocker bei der Bahn. "Da gab es diese Eisenbahner in ihren dunklen Uniformen, die noch richtig stolz auf ihren Beruf waren", erinnert er sich. Bellstedt wurde Gleisbauer, war aber auch schon damals als Streckenläufer auf den S-Bahn-Gleisen zwischen Rostock und Warnemünde unterwegs. "Das war viel anstrengender", erzählt er. Er habe immer wieder in letzter Minute von den Schienen springen müssen. Bei der "Molli" kann ihm das nicht passieren. "Ich höre, wenn sie kommt", sagt der Mann in der orangefarbenen Signalweste, der heute für eine private Gleisbaufirma arbeitet. Um sieben Uhr hat sein Dienst in Bad Doberan begonnen. "Ich kontrolliere zuerst die Weichen vor dem Bahnhof", sagt er. Dann setzt Bellstedt sich in die Schmalspurbahn und fährt zur Endstation Kühlungsborn-West. Hier startet sein Kontrollgang. "Vor allem auf die Schweißstellen muss ich achten, weil es da Schienenbrüche geben kann." Aus der Ferne hört man die Dampflok nahen. Ab und zu zieht der Streckenläufer riesige Muttern an den Verbindungen zwischen Holzschwellen und Schienen fest, fegt an Bahnübergängen den Sand weg. Mehr als 30 Jahre alt ist die Strecke jetzt. "Oft ist über Monate nichts kaputt, und dann passiert mal wieder was." Plötzlich pfeift es laut, die "Molli" dampft vorbei. Ein Lokführer grüßt aus dem Fenster. Eine der wenigen Abwechslungen auf dem sechsstündigen Weg, der sich immer gleich durch Felder und Wiesen schlängelt, bei Wind und Wetter. "Ich darf nichts übersehen", sagt der Streckenläufer. Aber natürlich hat er auch Zeit zum Nachdenken. Oft kreisen die Gedanken um die Familie, seine Frau, die beiden Söhne. Wie verändert sich das Leben nach dem Amoklauf von Erfurt? Was ist im Garten zu tun? Bekommt der Ältere einen Ausbildungsplatz? "Es gibt kaum Lehrstellen, deshalb verlassen ja auch so viele Jugendliche das Land", sagt Bellstedt in die Stille des Maitages. Für ihn wäre das undenkbar. Er ist einer, der bleibt. "Es geht uns doch besser als früher", sagt er, und dass das Jammern endlich aufhören müsse. Uwe Bellstedt nimmt das Leben, wie es ist. Er ist auch gar kein Eisenbahn-Fan. "Ich wollte nie Lokomotivführer werden." Seit Jahren fährt er privat nicht mehr mit der Bahn, weil die Verbindungen so schlecht sind. Das letzte Buch, das er gelesen hat, hieß "So weit die Füße tragen".