Hannover (dpa/lni). Mehr als 60.000 Menschen verloren ihr Leben, als am 6. Februar 2023 die Erde in der Türkei und Syrien bebte. Nermin Avlar reiste mehrfach in die zerstörte Heimat ihrer Eltern und brachte Fotos mit.

Mit einer Foto-Ausstellung möchte die Künstlerin Nermin Avlar Solidarität für die Menschen in der türkischen Erdbeben-Region Hatay wecken - und gleichzeitig den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit vorstellen. „Jede einzelne Gasse ist geprägt durch Erinnerungen“, sagte die 48-Jährige im Neuen Rathaus von Hannover. Dort sind 60 großformatige Bilder noch bis zum 10. April zu sehen. „90 Sekunden“ lautet der Titel der Ausstellung - so lange bebte die Erde am 6. Februar 2023 im Südosten der Türkei und Syrien. Mehr als 60.000 Menschen verloren ihr Leben, darunter auch Verwandte, Freunde und Nachbarn von Nermin Avlar. Ihr Vater überlebte.

Die Leiterin von Stagecoach, einer Schauspielschule für Kinder, entschloss sich, in die Heimat ihrer Eltern zu fliegen. Dort hatte sie als Kind die Sommerferien glücklich verbracht - die Sonne, das Meer, aber vor allem die Menschen beeindruckten sie. Avlar entdeckte auf der Reise in ihrem zerstörten Elternhaus ihre alte Kamera. Sie entschloss sich, das in Bildern festzuhalten, was vom Sehnsuchtsort ihrer Kindheit geblieben ist: Schuttberge und Häuser, die wie Skelette wirken, ein zerquetschtes Auto in einer eingestürzten Garage, ein Plastik-Töpfchen in einem Zelt. „Eine Cousine hat 40 Leute unter so einer Zeltplane beherbergt“, berichtet die 48-Jährige, die vor etwa 20 Jahren schon mit der Kamera durch Syrien und den Libanon radelte und fotografierte.

Seit dem Beben war Avlar fünf Mal für mehrere Wochen in der Erdbeben-Region, fuhr mit einem Moped herum und kletterte auf Schuttberge. Die Bewohner von Hatay hat sie nicht in ihren Bildern festgehalten, viele seien traumatisiert und depressiv. „Mir ist es wichtig, dass die Würde der Menschen geschützt ist“, sagt sie. Dafür können in der Ausstellung Interviews mit Betroffenen angehört werden, die Avlar ins Deutsche übersetzen ließ. Ihre Fotos sind an Bauzäunen befestigt, die QR-Codes für die Interviews an Zeltplanen. Auf Texttafeln erzählt die Künstlerin von der Geschichte der Region.

Um die Menschen zu unterstützen, organisiert die 48-Jährige jetzt Patenschaften für Olivenbäume. Wer eine Patenschaft übernehme, könne Olivenöl oder Olivenseife beziehen. „Die Menschen brauchen so einen Fixstern. Sie freuen sich, wenn sie etwas geben können.“

Zudem plant die Künstlerin ein Projekt namens „Rollende Hilfe für Hatay“. Dafür will sie von Istanbul nach Antiochia radeln. Die Provinz Hatay sei bekannt für ihre Menschlichkeit und Toleranz, wo Muslime, Christen und Juden seit Jahrhunderten in Brüderlichkeit und Harmonie zusammenlebten, sagt die Fotografin. Diese Botschaft der Liebe wolle sie weitergeben.

Die Ausstellung „90 Sekunden“ soll noch an anderen Orten gezeigt werden, konkret geplant ist die Teilnahme an der „Kunstspur“ in Wennigsen (Region Hannover) am ersten Juni-Wochenende. Nermin Avlar hofft, dass auf diese Weise die Situation der Menschen in Hatay angesichts der vielen Krisen in der Welt nicht aus dem Blickfeld verloren wird.