Hannover/Hamburg. Fünf Siege nacheinander, acht Auswärtssiege in Serie: Auf dem Spielfeld blendet der Hamburger SV die Querelen an der Clubspitze einfach aus. Dieser HSV ist offenbar weiter als in den Vorjahren.

Ginge es nicht um den Hamburger SV, müsste man wahrscheinlich fragen: Wer oder was soll diese Mannschaft vom lang ersehnten Aufstieg in die Fußball-Bundesliga abhalten? Seit mehreren Monaten steckt dieser Club in einer schweren Führungskrise. Die immer neuen und immer schwerwiegenderen Vorwürfe gegen den Finanzvorstand und Anteilseigner Thomas Wüstefeld gipfelten erst zwei Abende vor dem spektakulären 2:1 (1:1)-Erfolg bei Hannover 96 in dem Rücktritt des Unternehmers. Doch die Mannschaft siegt einfach weiter, als hätte dies alles nichts mit ihrem HSV zu tun. Fünf Siege nacheinander sind es jetzt in der aktuellen Saison. Sogar acht Auswärtssiege in Serie, wenn man die vergangene Spielzeit noch hinzurechnet.

Nichts in diesen Wochen hat «den Geist der Mannschaft» (Kapitän Sebastian Schonlau) vermutlich stärker veranschaulicht als die Energieleistung des eingewechselten Ransford-Yeboah Königsdörffer in der Nachspielzeit des Hannover-Spiels. Tief in der eigenen Spielfeldhälfte eroberte der 21-Jährige den Ball und legte bis zu seinem Siegtor vor fast 10.000 mitgereisten Fans einen Sololauf über rund 70 Meter hin. «Ich wollte das Tor - dann habe ich es auch bekommen», sagte der Stürmer. Das ist der HSV im Herbst 2022.

Jeder kennt allerdings die Geschichte dieses Clubs. Den HSV wähnte man bereits im Herbst 2020, 2019 und 2018 auf dem Weg zurück in die Bundesliga. Und jetzt ist er noch immer die große Attraktion der Zweiten Liga. Und so hatte sich der Trainer Tim Walter in den 90 aufregenden Minuten in Hannover zwar am Spielfeldrand beinahe heiser gebrüllt, während er hinterher nur betont vorsichtig sagte: «Wir stehen da oben, das ist schön. Aber wir haben noch ein paar Spieltage. Wir arbeiten weiter. Denn wir sind noch lange nicht fertig.»

Walter und sein Kollege Stefan Leitl von Hannover 96 kennen sich seit Jahren. Beide spielten schon im Jugendalter gegeneinander und beide absolvierten gemeinsam die monatelange Ausbildung zum Fußballlehrer. In den vergangenen Tagen war es vor allem Leitl, der immer wieder den Unterschied zwischen dem HSV 2022 und dem HSV 2020, 2019 oder 2018 erklärte. «Man hat heute gesehen, wo der HSV steht und wo wir stehen», sagte der 45-Jährige: «Wir stehen am Anfang einer Entwicklung.» Aber die Hamburger hätten endlich einmal über einen längeren Zeitraum an ihrem Kader, ihrem Trainer und ihrer Spielidee festgehalten. Sie seien deshalb einfach weiter als die Konkurrenz.

«Wir haben gegen eine sehr starke Mannschaft gespielt. Die haben uns vor Aufgaben gestellt, denen wir nicht immer gewachsen waren», sagte Leitl weiter. «Der HSV steht da, wo er hingehört meiner Meinung nach.» Und das ist Platz eins.

Die Hamburger Weiterentwicklung lässt sich auch in Zahlen ausdrücken. Gegen die Nordrivalen aus Hannover und Kiel ließ der Club in den vergangenen drei Spielzeiten zusammengezählt 23 Punkte liegen. Jetzt besiegte man beide nacheinander in deren Stadien.

Auch lässt sich nicht leugnen, dass ein Spieler des HSV kaum mehr etwas anderes kennt als die permanenten Nebengeräusche und die Querelen innerhalb des Clubs. «Alles, was um uns herum passiert, können wir nicht beeinflussen», sagte Jonas Meffert in Hannover. Es werde wahrscheinlich immer wieder «etwas zu hören geben».

Der Rücktritt Wüstefelds wird der Mannschaft dabei auf längere Sicht wahrscheinlich mehr helfen als schaden. Spieler und vor allem Trainer Walter standen in dem internen Machtkampf stets auf der Seite des Sportvorstands Jonas Boldt, der das operative Geschäft nun vorerst alleine leitet. Und Boldt und Walter liefern aktuell Woche für Woche Argumente, ihre auslaufenden Verträge bald zu verlängern.