Hannover. Hannover wirbt mit dem weltgrößten Schützenfest - und will erstmals seit der zweijährigen Pandemie-Zwangspause wieder feiern, selbst wenn die Vor-Corona-Normalität noch nicht ganz erreicht ist. Dazu brechen die Veranstalter mit einer alten Tradition. Eine Männerbastion fällt.

Hannovers Schützenpräsident Paul-Eric Stolle kommt zu spät. Er sei "im Verkehrschaos hängengeblieben", sagte er entschuldigend. Ist das der Beweis, dass das Leben wieder normal läuft nach der Corona-Pandemie? "Ob die Pandemie beendet ist, mag dahingestellt sein, aber wir fühlen uns freier", sagte Stolle am Mittwoch. Frei, das Schützenfest im Juli groß zu feiern - nach zweijähriger Zwangspause. Und dazu räumen die Schützen mit ihren Traditionen auf, wollen ein modernes Schützenfest, wie Organisator Ralf Sonnenberg sagte. Ein Zeichen dafür: Zum ersten Mal übernimmt eine Frau das prestigeträchtige Bruchmeister-Ehrenamt auf dem Schützenfest.

Dieses Ehrenamt auf Zeit, vergleichbar mit dem einer Heidekönigin oder Spargelprinzessin, wird seit Jahrzehnten für ein Jahr vom Oberbürgermeister an vier Bruchmeister vergeben. Die Bewerber müssen "ledig, unbescholten, von gutem Leumund und Charakter" sein und einem örtlichen Schützenverein angehören. Die vier Repräsentanten sorgen in Frack und mit Zylinder auf dem Platz für Ordnung - und trinken "Lüttje Lage". Bisher waren es wohl nur Männer, es ist keine Frau bekannt, die das traditionsreiche Amt jemals ausübte. "Wir stoßen eine ganz große Tür auf", sagte Stolle, der selbst in den 1980er Jahren Bruchmeister war. "Wir sind da völlig geschlechtsneutral." Die Tradition gehe auf das Jahr 1403 zurück.

Am Mittwochnachmittag wurde dem Schützenrat erstmals eine Anwärterin auf das Bruchmeisteramt vorgestellt - Vanessa Smorra aus Hannover. Es sei ein aufregendes Gefühl - sie hoffe, den Weg dafür zu ebnen, dass sich mehr Frauen um das Amt bewerben, sagte die 20-Jährige, die eine Ausbildung zur Tanzlehrerin macht. Schon seit 2009 sei sie im Schützenverein, regelmäßig sei sie bei Schützenausmärschen "an der Hand von Vater und Onkel mitgelaufen". Am ersten Abend des Schützenfestes muss sie nun noch wie die drei Männer an ihrer Seite im Amt verpflichtet werden.

"Das Bruchmeisteramt für alle Geschlechter zu öffnen, ist ein weiterer wichtiger Schritt auf Hannovers Weg zu einer diskriminierungsfreien Stadt", hatte Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay schon im im Februar gesagt. Bewerberinnen habe es schon vor Jahrzehnten gegeben, sagte Stolle damals. "Aber das wurde immer sofort von ganz oben abgeschmettert."

Das ist nun anders. Und auch feiern können die Schützen wieder, vom 1. bis zum 10. Juli, ist sich Konstanze Beckedorf, die Sport- und Kulturdezernentin der Stadt, sicher. Auch wenn man "noch nicht wieder in der Vor-Corona-Normalität angekommen" sei. Und auch den wohl größten Schützenausmarsch der Welt am 3. Juli mit rund 12.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, über 40 Festwagen und Kutschen und rund zehn Kilometern Länge, der lange nicht sicher gewesen sei, werde es geben. Sonnenberg betonte: "In der Bevölkerung ist der Wunsch nach Feiern da."

Die Schausteller wiederum treibe vor allem Personalmangel um, es gebe auch Absagen, daher müsse er "immer wieder neu in die Akquise gehen", sagte Sonnenberg. Rund 200 Schausteller werden erwartet. Insgesamt 25 Großfahrgeschäfte, zwölf Kinderfahrgeschäfte, drei Festzelte und 40 Schießbuden sowie rund 100 Imbiss- und Süßwarenbuden soll es auf dem Volksfest geben

Nicht nur eine Bruchmeisterin gibt es zum ersten Mal, auch andernorts fallen die Beschränkungen für Frauen im Schützenwesen, wenn auch nicht überall: Beim traditionsreichen Nienburger Scheibenschießen dürfen schon Ende Juni erstmals seit rund 600 Jahren Frauen mitmachen.

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