Sandbostel. Vor 80 Jahren überfiel Hitler-Deutschland die Sowjetunion. Mit vielen Veranstaltungen erinnert Bundespräsident Steinmeier an die Millionen Toten. Im Norden von Niedersachsen lenkt er den Blick auf eine fast vergessene Opfergruppe.

Was hat ein niedersächsisches Bauerndorf mit dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion vor 80 Jahren zu tun? Frank-Walter Steinmeier hat am Montag die Gedenkstätte Sandbostel im Kreis Rotenburg besucht: Im Zweiten Weltkrieg unterhielt die Wehrmacht nahe dem Dorf ein Lager, Stalag X B genannt. Mehr als 300.000 Kriegsgefangene wurden hier eingesperrt. Etwa 70.000 waren sowjetische Soldaten. Tausende von ihnen starben an Misshandlungen, Hunger und Krankheit.

"Unternehmen Barbarossa - das war der ganz und gar verharmlosende Deckname eines verbrecherischen Angriffskrieges, eines Vernichtungskrieges", sagte Steinmeier. Für das Staatsoberhaupt bedeutet der Besuch den Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen, mit denen er an den 22. Juni 1941 erinnert, den Tag des Angriffs auf die Sowjetunion. Als erster Bundespräsident wird er am kommenden Freitag (18.6.) die Berliner Gedenkstätte Karlshorst besuchen und eine Rede halten - an dem Ort, an dem Hitler-Deutschland im Mai 1945 vor der Roten Armee kapitulierte.

Kein Land hatte im Zweiten Weltkrieg so viele Opfer zu beklagen wie die Sowjetunion, etwa 27 Millionen Tote. Allein etwa drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene - Russen, Ukrainer, Kasachen, Georgier und Angehörige anderer Völker - kamen in deutscher Gefangenschaft um.

"Dieses Sterben hat nicht irgendwo in weiter Ferne stattgefunden", sagte Steinmeier in Sandbostel. Eine Reihe der Gefangenenbaracken aus grauem Holz ist hier erhalten geblieben. "Mein Besuch gilt einer Opfergruppe, die auch in der deutschen Erinnerung weitgehend vergessen worden ist."

Historikern zufolge waren sowjetische Kriegsgefangene auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen die bei weitem größte Gruppe von NS-Opfern. "In der Region ist Sandbostel alleinstehend für diese Opfergruppe", sagt Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte Sandbostel. Aber es gab auch andere große Lager, zum Beispiel Wietzendorf und Fallingbostel in der Heide.

Die ersten 10.000 sowjetischen Gefangenen kamen im Oktober 1941 nach Sandbostel. Viele starben schon nach wenigen Monaten. "Gerade im Winter 1941/42 gab es die höchste Sterberate", sagte Ehresmann. In den sogenannten Russenlagern wurden den Soldaten systematisch ihre Rechte nach der Genfer Konvention verweigert: Für sie gab es keinen Sport, keine Gottesdienste, keine Kultur, keine Lebensmittelpakete und keine Besuche durch das Rote Kreuz.

Zu essen bekamen sie nur etwas Brot und einige Gramm Butter am Tag, "eine sehr wässerige Suppe mit verfaultem Gemüse", wie Ehresmann sagt. Viele Männer seien auf 30 bis 40 Kilogramm abgemagert. Aus dem Lager wurden sie auf zahllose Arbeitskommandos aufgeteilt - sie mussten bei Bauern oder beim Torfstechen schuften, bei Handwerkern oder verbotenerweise auch in der Rüstungsindustrie.

In den letzten Kriegstagen trieb die SS auch Tausende Häftlinge aus Konzentrationslagern nach Sandbostel. Am 29. April 1945 befreiten britische Soldaten die noch etwa 20.000 Gefangenen. Die Briten waren von den fürchterlichen Zuständen im Lager so erschüttert, dass sie Sandbostel "ein kleineres Bergen-Belsen" nannten.

In den Massengräbern des Lagerfriedhofs, an denen Steinmeier den Kranz niederlegte, ruhen 4700 namentlich bekannte sowjetische Opfer. Aber es habe viel mehr Tote gegeben, sagt Ehresmann. Die überlebenden sowjetischen Soldaten wurden in ihre Heimat zurückgebracht. Viele von ihnen kamen dort in Lager, weil Sowjetdiktator Josef Stalin alle Gefangenen als mögliche Verräter betrachtete.

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