Barsinghausen. Ein Fahrlehrer zeigt Kindern, wie die Welt vom Lkw aus aussieht – und warum tote Winkel so gefährlich sind.

Wie ein riesiges Kreuzfahrtschiff zwischen lauter kleinen Hafengebäuden – so gewaltig wirkt der Lastwagen auf dem Parkplatz vor der Grundschule im Barsinghäuser Ortsteil Groß Munzel, wenn die Kinder der Klasse 3a ihn neugierig umschwärmen. Der achtjährige Fionn braucht ein bisschen, bis er die Stufen zum Fahrerhaus des Achtzehntonners erklommen hat. Wie von einem Aussichtsturm blickt er auf den Schulhof hinunter, das Armaturenbrett erinnert entfernt an ein Flugzeugcockpit. „Man kann nicht direkt hinter den Lkw gucken – und wer neben dem Laster steht, ist auch nicht immer gut zu sehen“, ruft Fionn, während er prüfend in alle Rückspiegel schaut. Sein Freund Matthes erklärt, wieso das so ist: „Wenn jemand so steht, dass man ihn nicht sehen kann, ist er im toten Winkel.“

Mammutlaster sind oft blinde Riesen. Besonders beim Abbiegen an Ampeln bleibt ein toter Winkel, allen Spiegeln zum Trotz. Immer wieder kommt es zu tödlichen Unfällen, weil Fahrer Kinder und Erwachsene neben ihrem Laster schlicht nicht sehen können. Zwar gibt es mittlerweile moderne Sicherheitssysteme, Kameras beispielsweise, die den Fahrern ein Livebild von der rückwärtigen Umgebung auf den Monitor senden. Doch längst nicht alle Fahrzeuge sind damit ausgerüstet. „Gerade beim Rechtsabbiegen ist die Unfallgefahr groß“, sagt Jörg Steckelberg.

Fahrlehrer Steckelberg ist Stammgast in der Schule

Der Fahrlehrer arbeitet daran, dass sich das ändert. In dritter Generation betreibt der 49-Jährige eine Fahrschule mit drei Filialen in der Region Hannover, sein Großvater gründete den Familienbetrieb 1934 – und er selbst steuert seit 2017 mit seinen Lastwagen regelmäßig Schulhöfe an. In der Grundschule Groß Munzel in Barsinghausen, die auch Fionn­ und Matthes besuchen, ist er längst Stammgast. Einzeln dürfen die Kinder bei ihm ins Fahrerhaus klettern und sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes einen Überblick verschaffen. „Es ist schon ein Unterschied, ob ein Kind vom toten Winkel nur im Unterricht hört oder ob es die Erfahrung einmal selbst vom Lkw aus gemacht hat“, sagt Schulleiterin Elke Jasper. „Wenn die Jungen und Mädchen einmal selbst auf dem Bock gesessen haben, vergessen sie das nicht so schnell.“

Es ist ein Perspektivwechsel, bei dem die Kinder den Platz des Fahrers einnehmen. „Der tote Winkel kann so groß sein, dass ganze Schulklassen darin verschwinden“, sagt die Schulleiterin. „Das zu sehen ist immer wieder beeindruckend.“ In Deutschland ist die Zahl der Verkehrstoten zwar gesunken, von mehr als 19.000 im Jahr 1970 auf 3046 im Jahr 2018. Doch noch immer sind Verkehrsunfälle bei Kindern zwischen fünf und 14 Jahren weltweit die häufigste Todesursache. Politiker arbeiten daran, die Sicherheit zu verbessern, die EU hat als Ziel ausgerufen, die Zahl der Verkehrstoten bis 2050 auf nahezu null zu bringen. „Bis dahin haben wir aber noch viel Arbeit vor uns“, sagt Steckelberg.

Idee zum rollenden Klassenzimmer wurde im Lkw geboren

Auf dem Schulhof zeigt er den Kindern Fotos, auf denen Fußgänger von Verkehrsschildern verdeckt sind. „Das sind Sichtfallen“, erklärt er, „Lkw-Fahrer können die Passanten dann nicht sehen.“ Manchmal schenkt er den Jungen und Mädchen auch Lineale mit Verkehrsschildern. Seine Besuche mit dem Lastwagen sind ein Stück lebendige Verkehrserziehung – und unter Umständen können sie Leben retten.

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Die Idee zum rollenden Klassenzimmer wurde im Lkw geboren. „Der Sohn einer Schulsekretärin war bei uns in der Ausbildung, wir sprachen darüber – und dann beschlossen wir, angehende Berufskraftfahrer und Schulkinder einfach zusammenzubringen“, sagt Steckelberg. Schließlich ist der tote Winkel in Grund- und Fahrschulen gleichermaßen ein Thema. Nicht nur die Kinder lernen dabei, dass sie im Zweifel lieber vorsichtig sein müssen. Steckelberg nimmt auch die angehenden Kraftfahrer mit in die Schulen. „Der Kontakt zwischen Fahrern und Kindern ist wichtig“, sagt er.

Fionn darf auch selbst hinter das Steuer des Lastwagens.
Fionn darf auch selbst hinter das Steuer des Lastwagens. © Tim Schaarschmidt | Tim Schaarschmidt

„Die Fahrer sollen Gesichter von Kindern vor Augen haben, die neben ihnen an der Ampel stehen könnten.“ André Thiele ist einer dieser künftigen Lkw-Fahrer. „Man wird sensibler dadurch“, sagt der 29-Jährige, der eine Umschulung zum Berufskraftfahrer macht. „Wenn man weiß, wie Kinder eine Situation wahrnehmen, kann man sich auch als Fahrer darauf einstellen.“ Auf dem Schulhof haben die Jungen und Mädchen ihre Lektion gelernt: „Ich dachte eigentlich, ein Lkw wäre wie jedes andere Auto auch“, sagt Fionn, „aber jetzt weiß ich, dass ich lieber Abstand halte und besonders vorsichtig bin.“

Die Aktion:

  • Gemeinsam stellen das Hamburger Abendblatt, die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, die „Kieler Nachrichten“ und NDR Info Personen und Initiativen vor, die im Norden etwas bewegt haben. Die es mit Engagement, Ideen und Mut geschafft haben, Dinge zum Besseren zu verändern.

Nach der Unterrichtsstunde am Lenkrad sind alle zufrieden. Schulleiterin Jasper, weil die Kinder etwas fürs Leben gelernt haben: „Wir hoffen, dass möglichst viele Schulen solche Präventionsprojekte machen“, sagt sie. Fahrlehrer Steckelberg ist zufrieden, wenn er auf die Bilder von Lastern im Straßenverkehr schaut, die die Grundschüler für ihn gemalt haben: „Dieses Feedback ist unser Lohn“, sagt er. Und Fionn und seine Freunde sind von allen vielleicht am zufriedensten. Mit breitem Lächeln verrät er, warum: „Im Lkw zu sitzen macht eben mehr Spaß als Mathe.“

NDR Info sendet dazu einen Beitrag um 7.48 Uhr