Auf dem Hof Butenland an der Nordsee verbringen ausgemusterte Rinder einen friedlichen Lebensabend, statt als Wurst oder Steak zu enden. Hier können die Wiederkäuer einfach nur Tier sein

Butjadingen. Das Baby wiegt gute 1000 Kilo und hat einen riesigen weißen Kopf. Langsam setzt es seinen massigen Körper in Bewegung, ganz vorsichtig, ganz sanft, erst einen Schritt, dann zwei, dann drei. Schließlich reckt es den Hals nach vorn.

„Hallo Baby“, ruft Karin Mück, sie strahlt. Das Baby heißt Mattis, ein Ochse, etwas mehr als zwei Jahre alt, und Karin Mück geht vor ihm in die Knie. Ihr Gesicht ist jetzt genau da, wo Mattis seine feuchte, rosafarbene Schnauze hat. Das wuchtige Tier kommt der zierlichen Frau damit ganz nah. Es atmet tief ein, aus, wieder ein. Und Mück lacht. „So begrüßt man Kühe“, sagt sie, „wortwörtlich auf Augenhöhe. Dann haben sie keine Angst.“

Der Mensch selbst wiederum muss auch keine Angst vor Mattis haben, so beeindruckend seine Statur und die langen Hörner auf seinem Kopf auch sein mögen. Mattis kennt Menschen, und er ist neugierig – aber anders als alle anderen Rinder in seiner Herde hat er auch noch keine schlechten Erfahrungen mit ihnen gemacht. Der Ochse wurde im August 2011 auf einer der grünen Wiesen von Hof Butenland geboren und danach lange von seiner Mutter Dina mit ihrer rauen Zunge abgeleckt. „Die ersten Minuten im Leben eines freien Kalbes“, steht unter einem Video mit dieser Szene, die Karin Mück gedreht und danach ins Internet gestellt hat.

Jedes Jahr werden in Deutschland rund vier Millionen Kälber geboren – und nur die wenigsten von ihnen haben so viel Glück wie Mattis, der noch heute eng an der Seite seiner Mutter lebt. In der Milchviehhaltung werden die Kälber meist schon am ersten Tag nach der Geburt von den Kühen getrennt, immerhin sollen sie nicht die Milch wegtrinken, mit denen die Landwirte ihr Geld verdienen: Rund 50 Liter verbraucht jeder Deutsche im Jahr, dazu kommen rund 30 Kilogramm Milchprodukte wie Joghurt oder Quark, dazu 23 Kilo Käse und sechs Kilo Butter.

Milchprodukte gibt es auf Hof Butenland in Butjadingen, einer kleinen niedersächsischen Halbinsel an der Nordsee, nicht. Dafür aber ein Zuhause für Tiere, die anderswo nicht mehr gebraucht wurden, die nutzlose Nutztiere geworden sind, weil die Tierversuche an ihnen abgeschlossen sind, weil sie wie Mattis’ Mutter Dina nicht mehr genügend Milch gegeben haben und geschlachtet werden sollten. Oder weil sie von Anfang an dazu gedacht waren, Wurst und Steaks aus ihnen zu machen.

34 Rinder leben hier in einem Kuh-Altersheim, das Karin Mück und ihr Lebensgefährte Jan Gerdes 2001 gegründet haben. Daneben vier Hunde, je fünf Schweine und Pferde, sechs Katzen, Dutzende Hühner, Gänse, Kaninchen, Enten. Alle Tiere haben eines gemeinsam: Wenn es Gerdes und Mück nicht gäbe, wären sie tot.

Anders als es in der modernen Industriegesellschaft der Fall ist, halten die beiden von einer Unterscheidung zwischen Nutz- und Haustieren nichts. In Deutschland leben derzeit – Fische nicht mitgezählt – rund 30 Millionen Hunde, Katzen, Hamster und Co. in unseren Haushalten, die Frauchen und Herrchen buttern jedes Jahr fast vier Milliarden Euro in den wachsenden Heimtiermarkt. Haustiere sind für uns gute Tiere. Weil wir mit ihnen kuscheln und spielen können. Weil wir sie lieben. Die meisten kämen nie auf die Idee, Essen aus ihnen zu machen.

Bei Kühen oder Schweinen ist das bekanntermaßen anders. Sie liefern uns Milch und Fleisch, aus ihrer Haut wird Leder für Gürtel und Schuhe. Es hat nichts mit Melodramatik zu tun, wenn man sagt: Diese Tiere sterben für unsere Nahrung und unseren Komfort. 2012 wurden laut Statistischem Bundesamt 58.349.687 Schweine in Deutschland geschlachtet. Das sind fast 160.000 Schweine am Tag, 6660 pro Stunde, 111 in jeder Minute.

Und genau darum geht es Gerdes und Mück: Das Nutztier von seinem Nutzen zu befreien, es Tier sein zu lassen und frei, jedenfalls so frei es geht. Die Kühe Mattis, Dina, Fiete, Uschi, Alma, Manuela und die vielen anderen, die hier Namen statt Nummern haben, bewegen sich frei zwischen ihrer Weide und dem Stall, meist stehen sie tagsüber draußen und gehen zum Schlafen rein. Ähnlich ist es mit den Schweinen Else und Erna, Rosa-Mariechen oder Lui, der aus einem Zirkus befreit wurde. Das 40 Hektar große Areal von Hof Butenland hat Gerdes gut abgezäunt, damit kein Tier auf die Straße läuft, kein Huhn vom Auto überfahren wird.

Jan Gerdes ist kein Mann vieler Worte, aber er hat ein großes Herz. Der 59-Jährige wurde wie sein Vater hier auf dem Hof geboren, sogar in dem Zimmer, in dem er heute schläft. Weil das Wesermarschland keinen guten Ackerboden bietet, war Hof Butenland schon immer ein Milchviehbetrieb, den Gerdes dann 1981 von seinen Eltern übernahm. „Ich hab sofort auf Bio umgestellt“, sagt er, doch sei er trotzdem unzufrieden gewesen. Seine Kühe taten ihm leid. „Im Winter konnten sie meistens nur angebunden im Stall stehen. Ich habe schon angefangen, es den Tieren etwas netter zu gestalten, aber es hat ja nicht wirklich was verändert.“ Der letzte Ruck kam dann in Form einer jungen Auszubildenden aus Frankreich.

Gerdes lächelt, als er an die Szene vor mehr als zwölf Jahren denkt. Er sitzt jetzt in seinem altern Bauernhaus und rührt im Kaffee, es gibt Sahne auf Sojabasis und Schokolade ohne Milch. „Als eine Kuh geschlachtet werden sollte, wollte sie das unbedingt verhindern“, erzählt er, „aber mein Entschluss stand fest.“ Das Mädchen habe sich dann in der Nacht vor der Schlachtung mit einer Blockflöte in den Stall gesetzt und für die Kuh gespielt – und auch noch am nächsten Tag, so lange, bis der Bolzenschuss kam.

„Vor dem Schlachter war mir das furchtbar peinlich“, sagt Gerdes, „vergessen werde ich das aber nie.“ Und ihm wurde klar, dass Schluss sein musste mit dem Milchbetrieb. Gerdes beschloss wegzuziehen aus Butjadingen, neu anzufangen, nur hatte er keine Idee, wie. „Doch dann lernte ich Karin kennen.“ Die heute 58-Jährige hat lange als Krankenschwester in der Psychiatrie gearbeitet – und war schon immer Tierretterin. Einmal ist sie deswegen sogar in Haft gekommen. „Ich sagte zu ihm: Mach weiter wie bisher, nur anders. Lass die Tiere leben. Und wir gucken, wie wir das finanziell hinkriegen.“

Und sie kriegten es hin. Zum einen ist Hof Butenland eine Stiftung, es fallen also keine Steuern an. Dafür kommen Spendengelder rein. Wenn irgendwo eine Kuh vor dem Tod bewahrt werden soll, startet Karin Mück über das soziale Netzwerk Facebook einen Aufruf, um den Schlachtpreis von rund 1200 Euro zusammenzubekommen. „Bisher“, sagt sie, „hat das immer geklappt.“ Zum anderen vermietet Hof Butenland zwei Ferienwohnungen, verkauft Tier-Kalender und vegane Kochbücher, hinter den Ställen steht ein Windrad, außerdem bekommt Gerdes für sein Land EU-Agrarsubventionen. Große Sprünge können sie damit nicht machen – aber es reicht, um eine Hilfskraft und zuletzt sogar einen Auszubildenden einzustellen.

Jeden Tag bringt der Postbote Briefe aus ganz Deutschland. Briefe mit Tierschicksalen und der Bitte, diese Kuh oder jenes Schwein aufzunehmen, doch die meisten werden abgelehnt, der Platz ist rar. Gerdes stellt seinen Kaffee beiseite und zieht einen Umschlag aus einem großen Stapel. Kurz überfliegt er die Zeilen. „Hier, ganz typisch. Ein Ehepaar lässt sich scheiden und weiß nicht wohin mit seinen Schäferhunden.“ Andere Fälle sind weitaus dramatischer. Etwa Kuh Manuela musste vier Jahre lang für ein Experiment für leistungssteigerndes Kraftfutter herhalten. Auf der einen Seite ihres Bauches wurde ihr ein Loch mit einem Deckel einoperiert, durch das jeden Tag der Mageninhalt für die Untersuchungen entnommen werden konnte.

Im letzten Jahr brachten Tierschützer mehr als ein Dutzend völlig nackter, federloser Hühner aus Bio-Haltung auf den Hof. Schwein Rosa-Mariechen wurde als Ferkel von Tierschützern in einer Mastanlage gefunden, mit Maden im Gesicht. „Ich verstehe nicht, warum immer nur Tierschützer oder die Medien Skandale im Umgang mit Tieren aufdecken“, sagt Mück. „Alle diese Einrichtungen werden schließlich auch von Tierärzten und Veterinärämtern überwacht.“ Dass diese Kontrolle offenbar Lücken haben kann, zeigen aber auch die immer neuen Lebensmittelskandale in Form von Dioxin-Eiern und Gammelfleisch.

Für ihr Engagement erfahren Mück und Gerdes nicht nur Lob. Vor allem in der Landwirtschaftsszene werden sie ausgelacht – oder beschimpft. Bauern mit Milch- oder Fleischbetrieben sehen vor allem Landwirtschaftsmeister Gerdes als Nestbeschmutzer, der seinen eigenen Berufsstand in die Pfanne haut. Das Fachmagazin „agrar manager“ widmete Hof Butenland jüngst einen ganzen Artikel und vermutete dabei witzelnd vor allem „Städter mit Landweh und unerfüllter Tierliebe“ unter den Unterstützern.

Vielleicht ist da was dran. Vielleicht auch nicht. Mück und Gerdes glauben jedenfalls an ihr Projekt und versuchen, über so etwas hinwegzusehen. Als es draußen dunkel geworden ist und die Kühe ihren Weg in den Stall gefunden haben, müssen sie raus, denn manche Hofbewohner brauchen besondere Hilfe. So wie der große weiße Hütehund Kylie, der zu alt und zu überzüchtet ist, um noch allein zu laufen, die Hüfte macht’s nicht mehr. Jeden Abend bringen Mück und Gerdes ihn mit einer Krankentrage ins Haus, damit er dort auf einer Decke schlafen kann. Das dauert seine Zeit, es ist müheselig und schwer. Für Mück hat das alles aber seinen Sinn, egal, ob sich um Nutz- oder Haustiere handelt. Sie sagt: „Jedes Wesen ist eine Persönlichkeit.“