Greifswald (dpa/mv). Nicht erst seit Corona arbeitet das Gesundheitssystem vielerorts am Anschlag. Die aktuelle Erkrankungswelle bei Kindern verschärft die Situation. Die Bundesregierung will das System stärken.

Die aktuelle Erkrankungswelle bei Kindern sorgt auch im Nordosten für volle Kinderarztpraxen. „Wir arbeiten am Anschlag. Wir haben so viele Patienten am Tag, wie wir sonst nie hatten“, sagte der Landesverbandsvorsitzende der Kinder- und Jugendärzte, Andreas Michel, am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. Er sei Teil einer Doppelpraxis in Greifswald, wo es am Montag 195 Patienten gewesen seien. Normalerweise gelte, „wenn es schlimm ist, sind es immer so 100, 120“. Insgesamt seien es in den verschiedenen Kinderarztpraxen der Stadt 700 bis 800 gewesen. Michel nannte das eine „unfassbar große Zahl. So kennen wir das eigentlich nicht.“

Die aktuelle Erkrankungswelle stelle alles in den Schatten. Man erhalte den Eindruck, „dass zurzeit jedes Kind krank ist“.

Grund sei, dass die Kinder nun Infekte nachholten. Wegen des Coronavirus hätten sie in den vergangenen zwei Jahren Masken getragen und sich seltener infiziert. „Wir haben jetzt sehr, sehr, sehr viele Grippe-Fälle - Kinder, die wirklich eine Woche lang hoch fiebern.“ Hinzu komme etwa das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV). Wegen dieses Erregers müssten Kleinkinder auch regelmäßig ins Krankenhaus.

Man versuche, so viel wie möglich ambulant abzuarbeiten, um die Kliniken zu entlasten. Dazu gehöre auch, Kinder engmaschig einzubestellen, teilweise mehrmals am Tag. Man habe von der Universitätsmedizin Greifswald zuletzt schon das Signal erhalten, dass die Klinik stark ausgelastet sei.

Deutsche Intensiv- und Notfallmediziner beklagen derzeit einen dramatischen Bettenmangel in Kinderkliniken. Für die Kinder-Intensivbehandlung bei RSV gibt es der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zufolge derzeit nicht genügend Betten in Deutschland. In MV melden zwei von fünf Kinder-Intensivstationen - an der Unimedizin Rostock und in Neubrandenburg - nur noch begrenzte Kapazitäten. Dies geht aus dem täglich aktualisierten Divi-Register im Internet hervor.

Mecklenburg-Vorpommerns Gesundheitsministerin Stefanie Drese sagte am Freitag dem Sender NDR Info, „wir sind im Nordosten noch am Anfang der RSV-Welle“. Die hiesigen Krankenhäuser unterstützen demnach die Bundesländer Berlin und Hamburg. „Aber wir rechnen damit, dass es sich auch in Mecklenburg-Vorpommern noch zuspitzen wird.“ Sie appellierte an Eltern, möglichst erst einen Kinderarzt aufzusuchen - und dies möglichst am Anfang der Erkrankung, „damit man noch zu Hause die Pflege so gut wie möglich übernehmen kann“.

Michel sagte, wenn das Kind gut Luft bekomme, nur Husten, aber kein Fieber habe, dann könne man es auch zunächst ohne Arzt versuchen. Gut vermeiden ließen sich Infektionen derzeit nicht. „Die gehen jetzt alle in die Schule, die haben alle Kontakt miteinander.“ Letztendlich sei es auch natürlich, Atemwegsinfekte durchzumachen. „Weil sie eine Immunität erwerben müssen.“

Die Kindermedizin sei in den vergangenen Jahrzehnten immer ambulanter geworden. „Und das ist ja auch schön.“ Etwa wegen Impfungen müssten weniger Kinder in Kliniken. Das habe aber auch zu weniger Betten in den Kliniken geführt und damit auch zu weniger Ausbildungsplätzen für Kinderärzte. Auch weil geburtenstarke Jahrgänge demnächst in Rente gingen, brauche es hier eine Ausbildungsoffensive. Drese verwies auf Bemühungen, zusätzliche Kinderärzte auszubilden oder nach Mecklenburg-Vorpommern zu holen, etwa durch Stipendien.

Drese und Michel stimmten darin überein, dass die Finanzierung der Kliniken über Fallpauschalen in der Kinder- und Jugendmedizin nicht ausreiche. Man müsse für Situation wie derzeit Betten und Personal vorhalten, auch wenn diese beispielsweise im Sommer weniger ausgelastet seien. „Ich sehe erste Ansätze - weg vom Wirtschaftlichen, hin zu mehr Medizinischem - auch bei der neuen Gesetzgebung auf Bundesebene“, sagte Drese.

Der Bundestag hat am Freitag ein Gesetzespaket der Ampel-Koalition beschlossen, das die Krankenhäuser in Deutschland stärker von wirtschaftlichem Druck lösen soll. Für Kinderkliniken sollen 2023 und 2024 jeweils 300 Millionen Euro mehr fließen. Garantiert werden soll damit das Erlösvolumen der Vor-Corona-Zeit von 2019, auch wenn Kliniken tatsächlich nur 80 Prozent davon erzielen. Die Finanzierung soll so auch unabhängiger von der leistungsorientierten Logik werden.