Schwerin. Wissenschaftler halten erste Lockerungen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für vertretbar. Nun muss die Politik entscheiden. Ministerpräsidentin Schwesig erwartet von den Bund-Länder-Gesprächen am Mittwoch wichtige Weichenstellungen.

Nach Wochen gravierender Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Epidemie zeichnet sich für die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern eine langsame Rückkehr zu mehr Normalität im Alltag ab. Die Entwicklung der Infektionszahlen rechtfertige erste Lockerungen der strengen Schutzmaßnahmen, sagte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) am Dienstag in Schwerin nach Gesprächen mit führenden Medizinern des Landes. Doch müsse dies Schritt für Schritt, behutsam und bundesweit möglichst einheitlich erfolgen. "Für mich ist am Anfang weniger mehr", betonte Schwesig.

Unmittelbar vor dem für Mittwoch geplanten Spitzengespräch zwischen Bund und Ländern warnte sie vor überzogenen Erwartungen: "Man kann schon heute sagen, dass es überhaupt ausgeschlossen ist, dass am 20.4 all das wieder öffnet, was derzeit geschlossen hat." Im Vordergrund stehe weiterhin die Gesundheit der Bevölkerung. Die Zahlen bei den Neuinfektionen seien gering und Mecklenburg-Vorpommern sei weiterhin das Land mit der geringsten Infektionsrate. Das bedeute aber nicht, "dass man einfach so weiter machen kann, wie vorher".

Skeptisch zeigte sich Schwesig insbesondere zur Öffnung der Schulen. Selbst Experten seien sich uneinig, ob zuerst die jüngeren oder die älteren Schüler in die Klassenzimmer zurückkehren sollen. Anders als ihr hessischer Kollege Volker Bouffier (CDU), der bei einer möglichen stufenweisen Wiedereröffnung der Schulen eher mit Abschlussjahrgängen beginnen will als mit den Grundschulen, wollte sich Schwesig unter Hinweis auf die Bund-Länder-Gespräche nicht festlegen.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Mecklenburg-Vorpommern bezeichnete die Vorschläge der nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina für die Wiederöffnung der Schulen als realitätsfremd. Um die erforderlichen Mindestabstände für den Infektionsschutz einzuhalten, müssten viele Klassen angesichts enger Klassenräume gedrittelt und nicht halbiert werden, sagte der VBE-Landesvorsitzende Michael Blanck. Offen seien zudem Fragen der Hygiene, wie Atemschutz, ausreichend Waschbecken und Desinfektionsmittel. Der Landesschülerrat kritisierte die Leopoldina-Empfehlungen ebenfalls. Schon der Schulweg sei für die meisten Schüler ein großes Risiko, da der öffentliche Personennahverkehr genutzt werde, erklärte die Schülervertretung.

Für Handel oder Gastronomie, das ließ Schwesig durchblicken, könnten rascher Lösungen gefunden werden. Doch seien auch dort weitere Begleitmaßnahmen nötig, um die Ausbreitung der Corona-Epidemie im Zaum zu halten, betonte sie. Wichtig seien das strenge Einhalten der Hygieneregeln und nach Möglichkeit das Tragen eines Mundschutzes.

Unterdessen legte die von der Corona-Krise besonders gebeutelte Tourismuswirtschaft erste Vorschläge für den Neustart vor. Das Papier sei der Staatskanzlei und dem Wirtschaftsministerium in Schwerin am Montag übergeben worden, sagte Tourismusverbandschef Tobias Woitendorf.

Der Landestourismusverband und der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) schlagen eine Rückkehr zur Normalität in drei Phasen vor. Weitgehend ausgearbeitet sei aber nur der erste Teil von Phase eins, hieß es. Darin gehe es um die schrittweise Lockerung der Verbote dort, wo Abstands- und Hygieneregeln eingehalten und die Kapazitäten begrenzt werden können. Welche Anbieter als erstes wieder öffnen könnten, dazu wollte sich Woitendorf nicht äußern.

Einer Branchenumfrage von vergangener Woche zufolge können 60 Prozent der Tourismusunternehmen im Falle weiterer Einschränkungen über den 19. April hinaus ihre Betriebe nur noch zwei Monate aufrechterhalten.

Mit konkreten Vorschlägen für ein Ausstiegsszenario wartete die Linke auf. Sie schlägt vor, am 27. April in Mecklenburg-Vorpommern mit der schrittweisen Aufhebung der Corona-Maßnahmen zu beginnen. Die Zeit bis dahin sei zur Vorbereitung nötig, damit der Neustart geordnet ablaufe, sagte die Vorsitzende der oppositionellen Linksfraktion im Landtag, Simone Oldenburg. Demnach sollten Restaurants wieder öffnen dürfen, wenn sie den Mindestabstand zwischen den Gästen garantieren können. Friseursalons, Fußpflege oder Kosmetikstudios könnten je nach Größe des Betriebs eine begrenzte Anzahl an Kunden zulassen. Für die Schulen empfahl die Politikerin, zunächst den Unterricht für die zehnten und zwölften Klassen wieder aufzunehmen, weil dort die Abschlussprüfungen anstehen.

AfD-Fraktionschef Nikolaus Kramer sprach sich angesichts der flacher werdenden Infektionskurve ebenfalls für "eine behutsame Rückkehr zur Normalität" aus, ohne aber die Sicherheitsregeln außer Acht zu lassen. Auch er plädierte für Geschäfts- und Restaurantöffnungen bei beschränkten Kundenzahlen. Zudem müssten Arztpraxen, Kliniken und Pflegeeinrichtungen genügend Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt bekommen. Bildungseinrichtungen sollen je nach Infektionsrate regional gestaffelt öffnen.

Ministerpräsidentin Schwesig sieht in den Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine von mehreren Entscheidungsgrundlagen für die Bund-Länder-Gespräche am Mittwoch. "Die Wissenschaftler haben uns sehr deutlich gesagt, dass uns eine Gratwanderung bevorsteht. Wenn wir Maßnahmen lockern, dann muss dies so erfolgen, dass die Zahl der Infektionen nicht in die Höhe schießt", betonte Schwesig. Unmittelbar nach dem Gespräch der Länderchefs mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) soll es laut Schwesig noch am Mittwoch eine erste Telefonkonferenz des Kabinetts in Schwerin geben, ehe dann am Donnerstag konkrete Beschlüsse für das Land gefasst werden.

Nach Einschätzung des Rostocker Tropenmediziners Emil Reisinger, der zu den wichtigsten Beratern der Landesregierung zählt, haben sich die bisher verhängten Kontaktbeschränkungen als wirksam erwiesen. Die Ansteckungsrate sei damit derzeit gut steuerbar. Mit zuletzt etwa 39 Infizierten pro 100 000 Einwohnern weist Mecklenburg-Vorpommern bundesweit weiterhin die geringste Infektionsquote auf. Bis Dienstag (16.00 Uhr) hatten sich nach Angaben des Landesamts für Gesundheit und Soziales 623 Menschen nachweislich mit Covid-19 infiziert. Das waren sechs mehr als am Vortag. Die Zahl der Toten lag weiterhin bei elf. Bislang seien im Nordosten rund 23 800 Corona-Tests analysiert worden, hieß es.