Neubrandenburg. Der angeklagte Stiefvater hatte nach den Tod der kleinen Leonie immer von einem Treppensturz gesprochen. Dem widerspricht eine Expertin im Prozess. Der Angeklagte ist zudem voll schuldfähig.

Die sechsjährige Leonie aus Torgelow (Landkreis Vorpommern-Greifswald) ist nach Angaben einer Expertin an den Folgen einer "massiven Gewalteinwirkung gegen den Kopf" gestorben. Diese lasse sich nicht mit einem Treppensturz erklären, wie es der wegen Mordes durch Unterlassen angeklagte Stiefvater getan habe, erklärte die gerichtsmedizinische Gutachterin Britta Bockholdt am Freitag am Landgericht Neubrandenburg. Durch die Gewalt - möglich wären Schläge oder Tritte gegen den Kopf - seien Blutgefäße am Gehirn abgerissen, in denen sonst Blut wegtransportiert werde, sogenannte Brückenvenen. Dadurch sei der Druck im Gehirn gestiegen.

Dieses Hirnbluten habe zusammen mit Entzündungen an der Lunge, an Rippen und ihrer Blutarmut zu Leonies Tod geführt. "Es war ein langsamer Sterbeprozess", sagte Bockholdt. Ein psychiatrischer Gutachter beschrieb den Angeklagten als "nicht drogenabhängig" und psychisch nicht auffällig. Es bestehe keine verminderte Schuldfähigkeit bei dem 28-jährigen, der die Förderschule ohne Abschluss beendet habe, aber schon früh selbstständig gewesen sei.

Die Rechtsmedizinerin hatte ihren Vortrag vor der Kammer erstmals mit Leinwand-Bildern der Untersuchungen und der Obduktion untermauert. Damit Prozessbesucher nichts sehen, wurde die Leinwand von hinten mit einer goldenen Folie abgedeckt. "Das gebietet die Pietät", sagte Richter Jochen Unterlöhner.

Unterlöhner hatte den leiblichen Vater des Mädchens - ein Wolgaster, der auch Nebenkläger ist - vor dem dreistündigen Gutachten aufgefordert, sicherheitshalber den Saal zu verlassen, was dieser erst ablehnte. Nach etwa 30 Minuten musste der Mann aber doch den Saal verlassen, er zitterte am ganzen Körper. "Es war kaum zu ertragen, die Bilder zu sehen", sagte sein Anwalt Falk-Ingo Flöter am Ende. Seinem Mandanten gehe es aber wieder besser.

Die Rechtsmedizinerin Bockholdt stellte zudem klar, dass Leonie "Chancen gehabt hätte, wenn die Mutter und der Stiefvater früher Hilfe geholt hätten". Der Notarzt, der erst zwei bis drei Stunden später gerufen worden war, habe gerade noch die letzten Herzaktivitäten gesehen. Es sei aber nicht klar, ob und mit welchen Schädigungen das Kind bei früherer Hilfe das Hirnbluten überlebt hätte.

Denn Leonie habe eine Vielzahl von Verletzungen aus verschiedenen Zeiträumen gehabt, die anscheinend medizinisch nicht versorgt worden seien. So wurden gebrochene Rippen, ein älterer Schlüsselbeinbruch, ein Bruch am Daumen und am Ellenbogen sowie ein Vielzahl an Hämatomen am Kopf und an den Beinen gefunden. "Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass eine Mutter das nicht eher gemerkt haben soll", sagte Bockholdt. Auch innere Verletzungen seien gefunden worden, die ebenfalls von stumpfer Gewalt herrühren müssten. Die Angaben des Stiefvaters, dem auch Misshandlung Schutzbefohlener vorgeworfen wird, seien als mit Widersprüchen behaftet einzuordnen, sagte Bockholdt.

Leonie war am 12. Januar 2019 tot in der Wohnung der Mutter und ihres Lebensgefährten in Torgelow gefunden worden. Der Stiefvater soll das Mädchen mehrfach misshandelt haben. Das bestreitet er vor Gericht und führt einen Treppensturz des Mädchens als Todesursache an. Auch den zweijährigen Bruder soll der Mann mehrfach misshandelt haben. Bei ihm, der heute bei seinem leiblichen Vater lebt, waren ebenfalls Hämatome am Kopf und Rippenbrüche gefunden worden, die von stumpfer Gewalt stammen sollen.

Die Mutter, gegen die noch ermittelt wird, hatte den Angeklagten hinter verschlossenen Türen nach Angaben von Prozessbeteiligten belastet und von einer "Spirale der Gewalt" in der Familie gesprochen. Der Prozess wird am 6. Januar fortgesetzt, dann werden die Plädoyers erwartet. Verteidiger Bernd Raitor kündigte bereits an, dass der Angeklagte außer seiner schriftlichen Erklärung keine weiteren Angaben machen wird - auch nicht bei seinem "letzten Wort". Das Landgericht will nach bisheriger Planung am 9. Januar sein Urteil verkünden.