Landkreis will bei der Energieversorgung autark werden. Doch in den Dörfern gibt es Widerstand. Beschwerden aufgrund von Windkraftanlagen.

Lüneburg. An vergangenen Wochenende hat der Naturschutzbund Nabu zur Zählung der Wintervögel aufgerufen. Auch in Neetze standen deshalb Menschen mit Blöcken in der Hand in der Feldmark. Der 2500-Einwohner-Ort zwischen Lüneburg und der Elbe soll mit dafür sorgen, dass die Region sich im Jahr 2030 ausschließlich selbst mit Energie versorgt. Doch die Bewohner sträuben sich - und zählen Vögel, um Argumente gegen die geplanten Riesenwindräder zu sammeln.

Autark könnte der Landkreis Lüneburg inklusive seiner Stadt in Sachen Energieversorgung tatsächlich sein - das haben Wissenschaftler der Leuphana Universität ausgerechnet. Können sämtliche Gebäude in Stadt und Kreis im Jahr 2030 mit Strom und Wärme versorgt werden, die innerhalb des Landkreises erzeugt werden? Das ist die Frage der politischen Gremien, für deren Beantwortung sie die Universität beauftragt haben. Kostenpunkt laut Auftrag: 35.000 Euro.

Das Ergebnis: Das Potenzial an freien Dachflächen, Raum für Windkraftanlagen, geologischen Voraussetzungen, Blockheizkraftwerken und Biogasanlagen ist da. Würden jedes Jahr zum Beispiel drei bis vier große neue Windkraftanlagen gebaut, wäre der Landkreis Lüneburg mit seinen 178.000 Einwohnern im Jahr 2030 stromautark, rechneten die Forscher vor. Wie hoch die Investitionen für Lüneburgs Autarkie in Sachen Energie wären und wie viele Anlagen welcher Art gebaut werden müssten, um von derzeit 51 Prozent in der Region produziertem Strom und zehn Prozent Wärme auf 100 Prozent zu kommen, sagen die Forscher nicht.

Und wie schwierig der Weg wird zur Energiewende vor Ort, zeigt sich gerade in Neetze in der Ostheide, 15 Kilometer östlich von Lüneburg und umgeben von Buckelgräbern, Wäldern und Spargelfeldern. Dort hat sich Mitte Oktober die Bürgerinitiative (BI) "Windkraft mit Weitblick" gegründet und zählte zwei Monate später gut 150 Mitglieder. Und laut Alice Pippig kommen "täglich welche dazu". Die Mitglieder wehren sich gegen die Pläne der Landkreisverwaltung, dort Vorrangflächen für Windräder auszuweisen.

Ein Rechtsanwalt ist bereits beauftragt. Eines der ursprünglich geplanten Gebiete ist mittlerweile schon wieder von der Karte gestrichen, "ein großer Erfolg für unsere Bürgerinitiative", so Pippig.

Ihre Initiativen-Mitstreiterin Dr. Bernadette Reuber ist Biologin und vor fünf Jahren aufs Dorf gezogen, weil es dort "so schön ruhig" ist. Mit ihrer Ruhe ist es vorbei. Reuber weist auf die immer größer werdenden Beschwerden von Menschen hin, die in der Nähe von Windkraftanlagen leben: Von Missempfinden, Kopfdruck, Migräne und Tinnitus spricht sie. Folgen des Infraschalls, warnt die Biologin. Dazu kommen Schattenschlag und Lärm. Reuber kritisiert die "Geschäftemacherei" mit den Stromerzeugern - ein Geschäft, das sich vor allem für die Herstellerfirmen und die Bauern lohne. "Wir in Neetze sind bereits überversorgt mit Solaranlagen, Biogas und Windrädern. Und dann soll der hier erzeugte Strom später auch noch nach Hamburg verkauft werden."

Alle BI-Mitglieder seien für Windkraft und gegen Atomkraft, sagt Reuber. Aber: "Wir wehren uns dagegen, dass hier schnell irgendetwas hochgezogen wird. Das soll bitte in vernünftigem Rahmen und ohne Schädigungen von Menschen geschehen." Eine Höhe von 120 Metern zum Beispiel sei in Ordnung, doch mittlerweile sei die Größe nach oben hin unbegrenzt. Schilder mit der Forderung nach "Menschenschutzgebieten" haben einige der rund 120 Zuhörer bei einer Informationsveranstaltung der Verwaltung in die Höhe gehalten. Und der Landrat? Dem ist bewusst, dass er nicht alle Bewohner seiner Region auf seine Seite bringen wird, wenn es um den Bau von Anlagen zur Energieerzeugung vor ihrer Haustür gehen wird. "Wir versuchen, ein Mittelmaß für den ganzen Landkreis hinzubekommen", sagt Manfred Nahrstedt (SPD). "Wir werden mit den Menschen reden. Doch dass wir nicht alle werden mitnehmen können, ist mir klar." Ziel der Vorrangflächen sei zu verhindern, dass "überall Windkraftanlagen wie Spargel in der Landschaft stehen".

Ebenso sei es jetzt an der Verwaltung, in Sachen Energieautarkie immer wieder Termine zu setzen - damit die Politik darüber entscheidet, wie es weitergehen soll mit der Umsetzung der theoretischen Berechnung von Wissenschaftlern in Realität und Praxis. Anfänge sind gemacht: das Projekt "Energiesparen an Schulen" mit zwölf Schulen, die Solardachbörse für Solaranlagen und das Serviceteam Stromsparen mit ehrenamtlichen Energiesparberatern sowie Bürgerarbeitern.

In Planung sind außerdem ein Klimaschutzkonzept und ein Sanierungsfahrplan für die kommunalen Liegenschaften - dafür allerdings müssen erst einmal Fördermittel beantragt werden. Und eine Idee gibt es in den Reihen von SPD und Grünen noch: Schnittgut von Bäumen entlang der Kreisstraßen zu Biomasse zu verarbeiten. Doch vorerst müht sich das Kreishaus weiter, die Bürger ins Boot zu holen. Parallelen finden die Neetzer Brüder und Schwestern im Geiste in Raven, am anderen Ende des Landkreises zur Autobahn 7: Deren Bürgerinitiative dort hat schon mehr als 800 Mitglieder.