Im neuen Programm für Berufsorientierung in der Handwerkskammer können Hauptschüler ihre Stärken ermitteln und Handwerksberufe testen

Lüneburg. "So viel Praxisnähe wie hier, können wir den Schülern nicht bieten", sagt Uwe Wegener, Rektor der Hauptschule Stadtmitte. Für insgesamt drei Wochen hat er seinen achten Jahrgang in das Technologiezentrum der Handwerkskammer Lüneburg geschickt. Eine Woche lang haben die Schüler mit Sozialpädagogen ihre Stärken und Schwächen herausgefunden. Jetzt können sie in zwei Wochen vier unterschiedliche Handwerksberufe ausprobieren.

Aufgeteilt in vier Gruppen lernen die Jugendlichen je zwei Tage lang den Beruf des Elektrikers, des Friseurs, des Tischlers und des Zimmermanns kennen. Friseurmeisterin Bexy Baez Gonzalez zeigt den Jungen und Mädchen zwei Tage lang Elemente aus ihrem Beruf. "Zunächst beginnen wir mit der Theorie, beispielsweise der Chemie für die Farben", erklärt sie. Dann können die Achtklässler das Gelernte ausprobieren. Sie färben Haarsträhnen, gestalten Nägel, überlegen sich Frisuren und Make-up. Bonnie Touré und Marie Lohse freuen sich besonders auf die zwei Tage bei der Friseurmeisterin. "Diese Mädchensachen machen mir Spaß", sagt Bonnie. Marie stimmt zu: "Vielleicht kriegen wir Tipps, die wir auch zu Hause umsetzen können." Die beiden würden jedoch am liebsten einen Beruf ausprobieren, der in den zwei Wochen nicht drankommt. Marie und Bonnie interessieren sich für die Arbeit des KFZ-Mechatronikers. "Ich habe meinem Vater öfter mal am Auto geholfen", begründet Marie ihren Wunsch.

Die starke Trennung zwischen typischen Frauen- und Männerberufen aufzuweichen, ist ein Anliegen vom Technologiezentrum-Geschäftsführer Matthias Steffen: "Im Zuge des Fachkräftemangels muss das Handwerk gerade Mädchen für sich gewinnen." Darum biete man bewusst typische Männer- und einen typischen Frauenberuf an. "Für Mädchen ist das Handwerk leider oft keine Option", sagt Steffen.

Bexy Baez Gonzalez ist sich sicher, dass sie auch einige Jungen für den Friseurberuf gewinnen kann. "Die meisten zieren sich erst, machen dann aber alles mit", sagt sie. Gerade sehr gepflegte Jungen fänden schnell Gefallen am Beruf des Friseurs. "Manchmal haben sie sogar mehr Ideen als die Mädchen", sagt die 33-Jährige. Tarek Freitag glaubt noch nicht so recht daran. "Ich würde später lieber Erzieher werden", sagt er. Der 15-Jährige will trotzdem alles mitmachen, vielleicht kann er sich doch noch für einen Job im Handwerk begeistern. Motivieren soll die Jugendlichen, dass sie den elektronischen Würfel vom Elektrikermeister oder das Holzregal, das sie beim Tischlermeister gebaut haben, mit nach Hause nehmen können.

Vor der Praxisphase führten sechs Sozialpädagogen eine Potenzialanalyse mit den Schülern durch. "Bewusst teilen wir ihnen das Ergebnis erst nach der Werkstattphase mit, damit die Jugendlichen unvoreingenommener sind", sagt Günter Neumann. Er ist bei der Handwerkskammer für den Bereich Berufsbildungsrecht zuständig. "Diese Form der Berufsorientierung wird bundesweit mit Mitteln des Ministeriums für Bildung und Forschung unterstützt", sagt er. Insgesamt 65 Stunden müssen die Jugendlichen die Berufsfelder kennenlernen. Das gibt die Förderrichtlinie vor.

In Niedersachsen ist es weiterführenden Schulen zudem vorgeschrieben, die Stärken und Schwächen der Schüler zu ermitteln. "Wir müssen ein Kompetenzfeststellungsverfahren machen", sagt Söhnke Voß. Er unterrichtet das Fach Arbeit und Wirtschaft an der Hauptschule Stadtmitte. Da dies bei der Handwerkskammer geschehen sei, werde nun ein Profil jedes Schülers erstellt. Die Wirtschafts- und Klassenlehrer, der jeweilige Schüler und ein Schulsozialpädagoge versuchen so individuell geeignete Berufe zu finden. "In das Praktikum in der neunten Klasse können die Schüler dann zielgerichtet gehen", sagt Schulleiter Uwe Wegener.

Günter Neumann von der Handwerkskammer ist zudem wichtig, dass die Schüler erkennen, wo sie das Gelernte anwenden können. "Viele wussten nicht, dass ein Zimmerer bei der Arbeit ständig mit Winkeln zu tun hat oder dass ein Friseur auch Visagist beim Fernsehen werden kann", sagt er.

Schulleiter Uwe Wegener stimmt zu: "Bei den Schülern ist der Begriff Handwerk noch sehr traditionell besetzt." Dass Elektroniker nicht nur Kabel aneinander löten, sondern ganze Netzwerke einrichten, wüssten die meisten Jugendlichen nicht. Beim späteren Praktikum hätten die Jugendlichen zudem oft nicht das Selbstbewusstsein nachzufragen. "Hier ist der Meister ganz für seine Gruppe da", sagt Wegener.

Im Anschluss soll das Projekt evaluiert werden. Die Hauptschule Stadtmitte hat bereits Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit dieser Art angemeldet. Zunächst läuft das Projekt noch einmal in Stade. Die Schüler dort arbeiten gerade mit Sozialpädagogen ihre Stärken und Schwächen heraus.