Interview mit Friedrich von Mansberg (SPD) und Michèl Pauly (Die Linke) über das häufig bemühte Schlagwort in der Debatte um Stadtentwicklung.

Lüneburg. Es geistert ein Gespenst durch die Debatten um Stadtentwicklung in Lüneburg, und das heißt Gentrifizierung. Bekannt aus Großstädten wie Berlin und Hamburg, steht es für die Umstrukturierung von Quartieren. In Lüneburg ist es Thema seit den Plänen für moderne Neubauten an der Frommestraße. Die Lüneburger Rundschau lud Friedrich von Mansberg (SPD) und Michèl Pauly (Die Linke) zum Streitgespräch über die positiven und negativen Folgen von Gentrifizierung.

Lüneburger Rundschau: Herr von Mansberg, Herr Pauly, Gentrifizierung ist zum Begriffsschlager geworden, sei es in der Debatte um die Frommestraße oder den Verkauf der Musikschule. Damit es nicht bei der Worthülse bleibt: Was bedeutet Gentrifzierung für Sie?

Friedrich von Mansberg : Gentrifizierung ist in erster Linie ein politisches Schlagwort, weniger der stadtsoziologische Begriff, der es ursprünglich war. Hinter den damit verbundenen Sorgen und Fragen steht der Versuch, einen Prozess zu beschreiben, der sich vor allem in Metropolen und Metropolregionen beobachten lässt: dass Wohnquartiere sich durch Aufwertung schleichend verändern und Menschen zuziehen, die mehr Geld für diesen Wert aufbringen können als die, die dort ursprünglich gelebt haben.

Michèl Pauly: Das nehme ich anders wahr. Den meisten Menschen sagt der Begriff noch nichts, er ist kein Schlagwort. Von der Übersetzung her gibt es zunächst auch keinen negativen Klang: Gentrifizierung heißt Veredelung eines Stadtteils. Doch die Folgen sind verheerend, wenn dort nur noch Edles seinen Platz findet.

von Mansberg: Das ist dann schon die politische Wertung. Die ganz konkrete Frage ist doch, wie wir mit unseren Stadtteilen umgehen wollen, wie wir sie entwickeln wollen.

Die Lüneburger Rundschau hat vor drei Jahren ihr Redaktionsbüro im Dreieck Frommestraße, Am Springintgut und Lauensteinstraße eingerichtet. Ist das Gentrifizierung?

von Mansberg: Wenn es um die erste Stufe des Prozesses geht, gehört das sicherlich dazu. Denn nicht nur Alternative und Künstler machen ein Viertel spannend, sondern auch eine Zeitungsredaktion. Auch sie erhöht die Attraktivität eines Quartiers, und darum geht es in der ersten Phase von Gentrifizierung.

Pauly: Politisch relevant ist aber die zweite Stufe: Wenn sich die Alteingessenen ihr Viertel nicht mehr leisten können. Gentrifizierung kann bewusst oder automatisiert geschehen. Hier, rund um die Frommestraße, handelt es sich um eine bewusste Umstrukturierung durch den Investor Jürgen Sallier.

Werten Sie Gentrifizierung als einen positiven Prozess oder einen negativen?

von Mansberg: Das lässt sich nicht schwarz-weiß sehen. In einer Gesellschaft verändern sich Dinge. Die Herausforderung ist, sich den Einzelfall anzusehen und damit verantwortlich umzugehen.

Pauly: Ich werte es negativ. Segregation, also Entmischung, kann verheerende gesellschaftliche Folgen haben. Proteste und Spannungen entstehen immer dort, wo es keinen Mix gibt, sei es sozial oder religiös. Diese Spaltung gilt es von vornherein zu verhindern.

Das umstrittene Bauprojekt in der Frommestraße kommt bekanntlich nicht. Wo in Lüneburg gibt es denn überhaupt schon Gentrifizierung?

Pauly: Bei der Musikschule. Wird der Bereich An der Münze und Katzenstraße veredelt, steigen auch die Preise gegenüber. Ob sich dann noch Institutionen außerhalb des kommerziellen Alltags wie das Böll-Haus sowie das Café Anna und Arthur, aber auch das Scala-Kino halten können, bezweifle ich. Wenn wir nur noch Douglas und Karstadt und die Schröderstraßen-Cafés haben, verschwindet die Begegnung zwischen Alt und Jung, Arm und Reich.

Das ist eine Sorge, noch kein Fakt. Wo in Lüneburg hat Gentrifizierung bereits stattgefunden?

von Mansberg: In der westlichen Altstadt. Das ist ein Quartier, das ganz unten angekommen war und aufgegeben werden sollte. Menschen haben mit viel Eigenleistung im Laufe von Jahren Haus um Haus aufgewertet, immer in Zusammenarbeit mit dem Verein Arbeitskreis Lüneburger Altstadt. Das ist heute ein tolles Quartier mit Künstlern und Ateliers. Dort wurde alles richtig gemacht. Auch, weil die Sanierung des Viertels nicht einem Konzern übertragen wurde. Ein gelungenes Beispiel für Gentrifizierung.

Pauly: Ja, optisch. Das Mietniveau ist aber hoch, dort kann nicht jeder wohnen.

von Mansberg : Es wird niemand verdrängt, und Veränderung lässt sich nicht verhindern. Die Altstadt wurde von Menschen verändert, besser geht es doch gar nicht.

Wird auch An der Münze niemand verdrängt werden, Herr von Mansberg?

von Mansberg: Nein. Dort wird niemand vertrieben, weil dort niemand wohnt. Die Musikschüler gehen ein paar Meter weiter, eine Begegnungsstätte war der Hof niemals, und die Anfragen für Veranstaltungen lassen sich an einer Hand abzählen. Die Innenstadt besteht nicht nur aus Douglas und Karstadt, wir haben Begegnungsräume von Gemeindehäusern bis in die Heiligengeiststraße. Außerdem wollen wir Freiräume bewahren respektive herstellen: Für das Glockenhaus wollen wir ein Konzept entwickeln, das Ausstellungsflächen und Raum für Veranstaltungen und Begegnungen ermöglicht. Das ist auch ein Ergebnis der öffentlichen Debatte, die mir ganz wichtig ist.

Sollen Politik und Verwaltung Gentrifizierungsprozessen entgegensteuern? Und wenn ja, wie?

Pauly: Durch einen Mietspiegel und bezahlbaren Wohnraum, ob kommunal oder privat, und zwar in allen Vierteln, um den Mix zu bewahren. Und durch Begegnungsstätten, zum Beispiel indem das Haus der Jugend an der Katzenstraße bleibt.

von Mansberg: Das ist richtig. Die Politik ist aufgefordert, mit dem Phänomen umzugehen. Ein Mittel ist die Gestaltungs- und Erhaltungssatzung, wie zum Beispiel im Roten Feld. Damit wurde dort eine Nachverdichtung gesteuert. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft Lüwobau ist ein wichtiges Instrument. Sie arbeitet gut und erfolgreich, stellt bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung. Was nicht funktioniert, ist dirigistisches Handeln gegenüber Unternehmern.

Welchen Einfluss hat die Stadt noch auf die Zukunft der alten Musikschule?

von Mansberg: Das Haus der Jugend bleibt in der Katzenstraße: Ein Viertel des Komplexes bleibt in städtischer Hand und wird nicht verkauft. Was in den restlichen drei Vierteln des Gebäudes entsteht, ist Teil der Ausschreibung und Angebote. Die Stadt wird bei der Vergabe sicher nicht auf den letzten Euro gucken, sondern auf das Konzept. Wir werden sehr genau hinsehen. Fest steht: Es kommt kein Kaufhaus, sondern Wohnnutzung. Das ist Veränderung, die nicht nur negativ ist: kurze Wege, energetische Sanierung. Das ist auch ein Stück Nachhaltigkeit.

Pauly: Sicher, Angst vor Veränderung muss nicht zwangsläufig sein. Trotzdem denke ich, dass das Wohnen An der Münze nicht für Jedermann sein wird, sondern exklusiv und elitär. Und wenn das Gebäude erst mal verkauft ist, ist der städtische Einfluss vorbei. Der Investor wird sicher nicht im Sinne von Kunst und Kultur handeln, sondern von Rendite.

von Mansberg: Das Ziel war, die Voraussetzungen für die Musikschule zu verbessern. Und was auf dem ehemals privaten Grund eines Energieversorgers entsteht, ist doch ein Hammer. Alle Beteiligten freuen sich wie die Schnitzel. (lacht) Wir haben einen öffentlichen Raum gewonnen, hurra!

Pauly: Und einen anderen verloren.

von Mansberg : Nächstes Ziel ist es, den Edeka-Supermarkt auf das Postgelände zu verlagern, dann entsteht auch im Industriedenkmal Saline noch mehr öffentlicher, kultureller Raum.