Die Gassen zur Ilmenau liefern spannende Geschichten. Mit einer Benefizstadtführung sammelt die Gemeinde von St. Nikolai Geld.

Lüneburg. Im Frühjahr dieses Jahres hatten sie die Idee. "Die Lüneburger Nikolaikirche ist ein fester Bestandteil vieler Stadtführungen. Sie hat fast immer geöffnet - dabei hat die Kirche immer weniger Finanzmittel zur Verfügung, um ihre Leistungen anzubieten", sagt Stadtführerin Verena Fiedler. In dieser Situation beschlossen die Stadtführer, ihre Arbeitskraft in den Dienst der guten Sache zu stellen: Eine Benefizstadtführung bieten sie in diesem Sommer an, ihre Erlöse gehen direkt an die Kirchengemeinde. Gegen eine Spende nehmen die Stadtführer Interessierte einen Abend lang mit in das Wasserviertel rund um die Nikolaikirche: Die Gassen zur Ilmenau liefern auch gestandenen Lüneburgern noch viele, spannende Geschichten.

Wie abwechselungsreich der Gang durch das Wasserviertel ist, hatte sich offenbar bei der zweiten Führung schon herumgesprochen. "Sie nehmen an einem Erfolgsmodell teil", sagte Pastor Eckhard Oldenburg zur Begrüßung der rund 100 Gäste, die zum abendlichen Rundgang in der Nicolaikirche erschienen waren. Der Altar im Hauptschiff der Kirche strahlte dazu im milden Abendlicht. "Seine reich verzierten Schnitzereien waren die Bibel des kleinen Mannes", erläutert Verena Fiedler. Lesen konnten die meisten Menschen im Mittelalter nicht. Und die Predigten der Pastoren auf Latein blieben ihnen auch ein Rätsel - nur Bilder konnten vermitteln, was die Bibel zu sagen hatte. Der Altar der Nikolaikirche stand übrigens bis ins 19. Jahrhundert in der Lambertikirche. "Dann musste die Kirche wegen Einsturzgefahr abgerissen werden - obwohl man versucht hatte, sie mit Stützpfeilern zu retten", sagt Verena Fiedler.

Was nicht niet- und nagelfest war, wurde damals am Lambertiplatz abgebaut und wieder verwandt - so beispielsweise die sechs Millionen Backsteine der Kirche. Oder die alte Treppe, die zur Orgel der Lambertikirche führte. "Die ist heute noch in einem Restaurant in der Bardowicker Straße zu sehen", weiß Verena Fiedler. Dort, wo jetzt die Löwen Apotheke Arzneimittel verkauft, befand sich früher eine Schmiede: Strategisch günstig an einer Ausfallstraße gelegen. Drei davon gab es in unmittelbarer Nähe, sie alle mussten aus Feuerschutzgründen auf Fachwerk in den Untergeschossen verzichten. "Die Lüneburger waren schon lange vor den Hamburgern in Sachen Feuerschutz aktiv", sagt Fiedler - so durften auch Privathäuser ihre Feuerstellen nur mit massivem Mauerwerk umgeben.

Dass die Bewohner der Salzstadt außerdem findig waren, um Abgaben einzutreiben, zeigt sich in der Baumstraße. Sie hat ihren Namen nach dem Schlagbaum, der dort über die Ilmenau gelegt wurde, um Zoll von den durchreisenden Kaufleuten zu erheben. An die Baumstraße schließt sich eine Gasse an, deren Namen uns heute Rätsel aufgibt. "Der Straßenname 'Im Wendischen Dorfe' weist darauf hin, dass hier einfache Leute wohnten, Hafenarbeiter vor allem. Die Wenden waren Heiden, die in einer Art Getto am Fluss lebten", erzählt Verena Fiedler. Und das taten sie auch noch unter ungünstigen Umständen, denn wer im Mittelalter kein Geld hatte, sah die Sonne nicht mehr.

"Die Armen wohnten in den Kellern der Häuser, ohne Fenster, ohne Tageslicht. Auch Kerzen konnten sie sich oft nicht leisten", berichtet die Stadtführerin. In den höheren Geschossen ihrer Häuser lagerten die wohlhabenden Hausbewohner lieber kostbare Waren: Unter dem Dach war es nicht so feucht wie im Keller, und soviel Ungeziefer gab es auch nicht.

Dass nicht alle unsere Vorfahren nur darben mussten, beweist eine Besichtigung des Lüner Hofes, ehemals Stadthof des Klosters Lüne. "Hierher wurden die Nonnen gebracht, wenn Gefahr für die Stadt drohte. Auf diese Weise konnten sie nicht zu Geiseln der Angreifer werden, sondern lebten sicher in den Stadtmauern: Hinter einem dreifach gesicherten Tor, das den Hof von der Straße abschirmte", erzählt Verena Fiedler.

Weiter geht es in die Rothehahnstraße, die ihren Namen übrigens nicht zur Erinnerung an eine mittelalterliche Feuersbrunst trägt, sondern nach einem prächtigen Wetterhahn, der hier auf einem der Häuser seinen Platz hatte.

Vor dem Haus der Familie Härtlein prangt er noch heute als Türschild - dort befand sich lange Zeit ein bekanntes Lüneburger Gasthaus. Der Erbauer des Hauses, ein Ratsherr, ließ im 15. Jahrhundert zeitgleich das Stift zum Roten Hahn errichten, das sich in der gleichen Straße befindet. Sein Seelenheil wollte er sich sichern. "Schließlich war es die Pflicht jedes guten Christen, für die Armen zu sorgen", erläutert die Stadtführerin. Gespendet wird auch am Ende dieses Abends - zum Nutzen der Nikolaigemeinde und ihrer prächtigen Kirche, die eindrucksvoll im späten Sonnenlicht schimmert. Die nächste Gelegenheit zur Teilnahme an der Benefizstadtführung besteht am Dienstag, 16. August, um 18.30 Uhr. Treffpunkt ist die Halle der Nikolaikirche.