Lüneburg/Moskau. Die Wahl der weiblichen Hauptrolle für das Drama „Kraj“ fiel Alexej Utschitel nicht schwer. Der russische Regisseur sah beim Festival im tschechischen Kurort Karlovy Vary (Karlsbad) den Film „Mein Freund aus Faro“ mit Anjorka Strechel und wusste: „Das ist meine Elsa.“ Die Schauspielerin aus Lüneburg, die in Hamburg studiert hat, war über das Angebot aus Moskau überrascht und begeistert. „Mein erster Gedanke war bloß: Wow!“, erzählt die 29-jährige. „Eine Figur zu spielen, der man glaubt, dass sie vier Jahre im Wald überlebt hat und um ihr Leben und ihre Liebe kämpft – und das in einer Welt, in der man sie nicht haben will: Das ist eine echte Herausforderung.“ An diesem Donnerstag kann sie für die Rolle nach etlichen anderen Auszeichnungen auch den russischen Filmpreis „Nika“ gewinnen.
„Ich wollte Schauspielerin werden, seit ich als Neunjährige am Theater Lüneburg den Affen in „Pippi Langstrumpf“ gespielt habe“, meint Anjorka Strechel. Daheim ist die Freude der Familie groß: „Wunderbar“, sagt Anjorkas Großmutter Margarete am Mittwoch in Lüneburg zum Erfolg der Enkelin. Und auch Tante Juliane Meyer-Strechel ist begeistert: „Das ist traumhaft“, sagt sie. Genau genommen wäre der „Nika“ schon die dritte russische Auszeichnung für ihre Nichte: „Außer dem Großen Adler als beste Schauspielerin hat Anjorka wegen der Lok-Szenen in dem Film auch schon eine Auszeichnung der russischen Eisenbahner bekommen“.
Mutter Gisela Langhans war mit der Tochter bei der Premiere des Films in Russland: „Sie haben meine Tochter hofiert wie einen Star“, schwärmt sie. Leider könne Anjorkas Vater den Erfolg nicht mehr erleben, vor wenigen Wochen sei er gestorben.
Der Weg zum Erfolg war nicht einfach. Zehn Monate lang steht Anjorka Strechel in St. Petersburg vor der Kamera – das heißt zehn Monate Entbehrung und Einsamkeit für die junge Schauspielerin aus dem eher überschaubaren und gemütlichen Lüneburg. Sie kennt niemanden in Russland, sie kann kein Russisch. „Ich fühlte mich schon einsam. Zwar hatte ich am Set eine Übersetzerin. Aber sonst konnte ich nicht einmal einen Witz machen.“ Der Dreh ist hart – sie muss in einen Fluss springen, Nacktszenen drehen und schwere Balken schleppen.
Doch die Mühe lohnt sich: „Kraj“ wird zum russischen Oscar-Kandidaten gekürt und erhält zu Jahresbeginn viermal den Filmpreis Goldener Adler – darunter für Strechel als „Russlands Schauspielerin des Jahres“. „Ich hatte Tränen in den Augen. Ich dachte nicht, dass sie den Preis einer Ausländerin geben.“
„Kraj“ ist der Name eines fiktiven sibirischen Dorfs, in das im Herbst 1945 der frühere Maschinist Ignat (Wladimir Maschkow) kommt. Auf der Suche nach einer alten Lok entdeckt er im Wald die Deutsche Elsa (Strechel). Sie ist nach der Festnahme ihres Vaters durch den sowjetischen Geheimdienst in die einsame Landschaft geflohen. Schließlich verlieben sich die Deutsche und der Russe ineinander, doch die Gesellschaft ist gegen diese Verbindung.
„Meine Großeltern sind aus Ostpreußen vertrieben worden. Für sie waren die Russen Feinde, für mich sind es Freunde.“ Dies sei eine Veränderung in der Geschichte, meint Strechel. „Insofern ist der Film auch ein Schritt zur deutsch-russischen Freundschaft.“
In Moskauer Medien erhielt der oft pathetische, von eindrucksvollen Technik- und Landschaftsaufnahmen geprägte Streifen hervorragende Kritiken. „Taiga-Thriller mit gebrochenen Helden“, meint etwa das Boulevardblatt „Komsomolskaja Prawda“.
Bis 2005 studierte Anjorka Strechel an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. „Kraj“ soll nicht ihr letzter Film im größten Land der Erde sein. „Ich lerne fleißig Russisch. Mal schauen, wo mich das Leben hintreibt.“
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