Junge Choreografen verarbeiten im Tanzlabor Anregungen des Publikums, die sie auf Postkarten erhalten haben

Lüneburg. Als seine lautlose Schimpftirade beendet ist, in der er immer wieder mit dem rechten ausgestreckten Zeigefinger herumfuchtelt und bedrohlich enge Kreise um eine verschüchtert wirkende Frau zieht, verschwindet der Chef von der Bildfläche. In der Bühnenmitte bleibt eine junge Frau zurück, die Arme anklagend in Richtung Himmel gestreckt, das Gesicht von Kummer verzerrt. So könnte es aussehen, hätten die Tänzer des Lüneburger Theaterensembles die Anregung einer Lüneburgerin für bare Münze genommen und umgesetzt.

Auf die Idee, das Publikum mit Hilfe einer Postkartenaktion direkt zu fragen, welche Fragen und Themen es bewegt, kam Ballettdirektor Francisco Sanchez Martinez. Die E-Mail der Frau, die von ihrem Ärger auf der Arbeit schrieb und wie ihr am Ende ihr Chef in seiner Wut leid tat, hat den gebürtigen Spanier besonders berührt. So sehr, dass er sie seinen Tänzern gezeigt und an die Pinnwand im verspiegelten Ballettsaal gepinnt hat. Knapp einhundert Wünsche und Anregungen haben die Balletttänzer erreicht. Darunter fanden sich Vorschläge, sich mit Spinozas Gedankenwelt, der Kirche in der Spannung zwischen Moderne und Altertum oder mit dem Thema Satire tänzerisch auseinander zu setzen.

Francisco Sanchez Martinez war überrascht über die große Resonanz. Er sieht darin auch eine Art Liebesbeweis der Lüneburger an ihr Theater und speziell die Tanzsparte. "Auf vielen Postkarten waren die großen universellen Themen beschrieben, die uns auch im Theater immer wieder begegnen und beschäftigen", sagt der Tänzer. Für einige Tänzer sei diese Art des Publikumskontakts neu gewesen. Wichtig sei jedoch, dass es diesen Austausch gebe, denn er bedeutet für die Künstler immer Inspiration. Wie sie ihre Choreografien an Ende arrangieren, bestimmen die Tänzer selbst. "Ich denke, es ist unrealistisch, dass sich ein 24-Jähriger täglich mit dem Weltuntergang befasst, um seine Interpretation der Apokalypse zu tanzen", sagt der aus an der Schauspielschule "Ernst Busch" in Berlin ausgebildete Choreograf und lächelt.

"Der Abend ist ein Experiment", sagt Francisco Sanchez Martinez über die Premiere des Tanzlabors am 25. Februar. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur die explizite Frage nach den Wünschen im Publikum, sondern auch die Konzeption des Abends ist eine Neuerung des Ballettchefs, der gleich seine erste Spielzeit nutzt, um dem zeitgenössischen Tanz zu mehr Geltung im Lüneburger Spielplan zu verhelfen. Anders als bisher, zeigen in der diesjährigen Tanzlabor-Aufführung nicht nur die Profis, sondern auch der Tanzjugendclub von Heidrun Stahl ihre Choreografien.

Patrick Rebullida, der seit August zum Tanzensemble des Theaters gehört und vorher bei einer Company in Manila auf den Philippinen getanzt hat, gab seiner Choreografie den Titel "Trockne mich". "Zum ersten Mal in meinem Leben, musste ich mich selbst um meine Wäsche kümmern. Zu Hause hat das meine Familie gemacht und sie in Wäschereien zu bringen, ist viel teurer als bei uns, aber bei der Auseinandersetzung kamen mir auch gute Ideen", erzählt der 29-Jährige zur Entstehung seines Stückes für zwei Personen. Die einzelnen Etappen, das Waschen, das Schleudern und das Trocknen und der daraus zusammengesetzte Prozess bilden den Handlungsfaden. "Ich selbst habe zu dieser Zeit eine Art Selbstreinigungsphase durchlaufen, die unterschiedlichen Etappen wollte ich deutlich machen."

Patrick Rebullida ist an diesem Abend noch in einem Stück von Kerstin Kessel zu sehen. Die ausgebildete Tänzern, die seit mehr als zwanzig Jahren in Lüneburg auf der Bühne steht, ließ sich von einem Besuch in einem wissenschaftlichen Museum in Bremen inspirieren. "Da war ein Stein zu sehen, grau, ein paar Flechten wuchsen drauf. Unter ultraviolettem Licht betrachtet waren auf dem gleichen Stein plötzlich Strukturen, Gewusel, viel mehr, als man vorher erahnen konnte."

Sie will der Frage nachgehen, was eigentlich real ist. Für ihr Stück "Nachts" bringt sie deshalb ein Bett auf die Bühne und lässt durch die vier Tänzer unsere Träume und Albträume sichtbar werden.

Premiere des Tanzlabors ist am Freitag, 25. Februar, 20 Uhr, Junge Bühne.