Landgericht Lüneburg verurteilt 46-Jährigen in 21 Fällen. Angeklagt waren 221. Verteidiger wird vermutlich Revision einlegen

Lüneburg. "Mit sechs Jahren fing es an. Ich dachte, es sei ein Spiel. Bis ich die Augen aufmachte und seinen Penis sah." Diese Zeilen schrieb Jasmin vor zweieinhalb Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Lüneburg auf. Zehn Jahre nach dem Spiel, das keines war, sprach das Landgericht Lüneburg gestern sein Urteil über den Mann, dessen Penis die Stieftochter mit sechs Jahren zum ersten Mal vor ihrem Gesicht sah: zehn Jahre Gefängnis wegen schwerem sexuellen Missbrauch in elf Fällen sowie sexuellem Missbrauch in zehn Fällen plus 20 000 Euro Schmerzensgeld an das Opfer.

Angeklagt war Alexander G. (46), arbeitslos und in der Privatinsolvenz stehend, wie berichtet in 221 Fällen: 218 an der Stieftochter Jasmin*, drei an dem Stiefsohn Kevin*. Doch nur 21 sah das Gericht als ausreichend konkretisiert an, um über sie zu urteilen. Für die übrigen sprach das Gericht den Angeklagten frei.

Das Verfahren war ein Aussage-gegen-Aussage-Prozess, Beweise gab es keine. Bis zum Schluss stritt der Beschuldigte die Vorwürfe ab. Für die Kammer um den Vorsitzenden Richter Axel Knaack war die "kriegsentscheidende Frage" daher: Woraus ergibt sich die Überzeugung zur Schuld des Angeklagten?

Nach mehr als 40 Verhandlungstagen und einem Jahr Verfahrensdauer stand für die Richter und Schöffen fest: Für die 21 verurteilten Fälle ist "im Ergebnis der Beweisaufnahme der Nachweis geführt worden". Soll heißen: Die Aussage von Jasmin, heute 16 Jahre alt, ist glaubhaft, die Schuld des Angeklagten steht fest. Danach hat Alexander G. seine Stieftochter gezwungen, ihn mit der Hand und oral zu befriedigen, ihr Pornofilme der eigenen Mutter gezeigt und sie vergewaltigt. Zum letzten Mal, als Jasmin 13 Jahre alt war.

"Er sagte, du willst es doch auch. Er hat widerlich gestöhnt. Er sagte, er wollte es mal richtig schön machen, dass auch ich einen Orgasmus kriege", zitierte Knaack Jasmins Niederschrift aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dorthin war die Schülerin kurz nach der letzten, von ihr als "schlimmster Tag" bezeichneten Vergewaltigung gegangen. Monate zuvor hatte sie sich bereits selbst verletzt, sich eine Nadel ins Knie geschoben, die sich entzündete, und immer wieder die heilende Wunde geöffnet.

Alexander G. und sein Verteidiger Ralf Pagels hatten vorgebracht, die Vorwürfe seien ein Komplott der Geschwister gewesen, um sich für den von Alexander G. selbst zugegebenen zu autoritären Erziehungsstil zu rächen, ihm mit der Falschaussage eine Quittung zu verpassen. Jasmin sei manipulativ, verlogen und psychisch krank.

Doch das Gericht konnte laut Axel Knaack in den Aussagen sämtlicher Zeugen nichts in dem Familienleben finden, "das so gravierend ist, solche Beschuldigungen entstehen zu lassen". Zwar sei es in der Wohnung laut her gegangen, es sei räumlich eng gewesen, und es habe Stress gegeben. "Aber das gibt es in Millionen anderen Familien auch."

Dass Jasmins älterer Bruder Kevin vor Gericht seine Aussage widerrufen hat, wertete die Kammer als nicht glaubhaft. Kevin hatte im April 2008 erstmals Vorwürfe gegen seinen Vater erhoben, die Mutter war daraufhin mit ihm zur Polizei gegangen. Jasmin selbst hatte geschwiegen - bis eine Ärztin in der Psychiatrie ihr von der Aussage des Bruders berichtete und sie nach eigenen Erfahrungen befragte.

Während Kevin noch zu Hause wohnt, lebt Jasmin heute in einem Jugendheim. "Warum packte er nicht aus, als sein Vater im Juni 2009 in den Knast wanderte?", fragte Richter Knaack. Denn widerrufen hat Kevin seine Aussage erst im Dezember - laut Gericht eine "vorsätzige Falschaussage".

Die Aussage Jasmins ging das Gericht anhand von 13 vom Bundesgerichtshof festgelegten Elemente vor: einer Inhalts-, Konstanz- und Fehlerquellenanalyse. Die Aussage bestand die Tests. "Wir haben alles abgearbeitet, was uns angeboten wurde", resümierte Knaack. Und dass sieben Jahre lang niemandem etwas aufgefallen war - laut Pagels ein Indiz für die Unschuld seines Mandanten - sei "leider nicht selten". Auch die von der Verteidigung vorgebrachte Borderline-Erkrankung liege bei Jasmin nicht vor. Und die diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung wirke sich nicht auf die Glaubwürdigkeit der Zeugin aus.

Die Mutter hat ihren Kindern nur kurz Glauben geschenkt, sie hält zu ihrem Mann und hat sich während des Verfahrens für ihn stark gemacht.

Gegen das Urteil ist die Revision möglich. Ob sie eingelegt wird, wollte Pagels gegenüber der Rundschau gestern nicht sagen. Alle Zeichen sprechen jedoch dafür.

*Name von der Redaktion geändert.