Ein 46-Jähriger soll sich an seinen Stiefkindern vergangen haben. Die Verteidigung plädiert auf Freispruch aus Mangel an Beweisen.

Lüneburg. "Ich bin davon überzeugt, dass sich die Taten genau so abgespielt haben", sagte die Staatsanwältin. "Es gab sicher weit mehr Übergriffe, als hier angeklagt sind", sagte die Vertreterin der Nebenklage. "Die Taten können ihm nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden", sagte der Verteidiger. "Ich habe ihr nichts getan", sagte der Angeklagte. Sein Urteil über den Fall sprechen wird das Landgericht Lüneburg am nächsten Donnerstag, 13 Uhr. Der Vorwurf lautet: sexueller Missbrauch in 221 Fällen.

Jasmin* war sechs Jahre alt, da soll ihr Stiefvater sich zum ersten Mal an ihr vergangen haben. Das kleine Mädchen sollte den Penis des Mannes in den Mund nehmen, und als Jasmin würgen musste, sollte sie mit der Hand weitermachen. Mit neun sollte die Grundschülerin ihn vor ihm hockend oral befriedigen. Als sie zwölf Jahre alt war, vergewaltigte er sie zum ersten Mal, mit 13 zum letzten Mal. Davor hatte er ihr Pornos gezeigt. Nicht irgendwelche, sondern Filmchen, die er mit Jasmins Mutter gedreht hatte. Das sagen Staatsanwaltschaft und Nebenklage.

Kurz danach ging Jasmin in die geschlossene Kinder- und Jugendpsychiatrie Lüneburg.

Sieben Jahre lang, von 2001 bis 2008, soll der heute 46-Jährige seine Stieftochter missbraucht haben, im Durchschnitt zweimal pro Woche. Von allein 200 Fällen geht die Staatsanwaltschaft aus, in denen das Mädchen den Mann mit ihrer Hand befriedigen musste. Insgesamt 218 Taten an Jasmin hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg angeklagt und drei an ihrem Bruder. Auch ihm soll der Stiefvater Pornofilme gezeigt haben, vor ihm onaniert haben, sie sollen sich gegenseitig den Penis gerieben haben, und einmal soll er den Jungen überredet haben, dass er, der Stiefvater, an ihm Oralverkehr ausübt.

Davon erzählt hatten über Jahre weder Jasmin noch ihr älterer Bruder. Bis zum 11. April 2008. Nach einem Arztbesuch berichtete Kevin*, damals 16 Jahre alt, seiner Mutter von Übergriffen des Stiefvaters. Die schmiss den Mann aus der Wohnung, ging mit dem Sohn zur Polizei. Von der Anzeige erfuhren die Ärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sie befragten das Mädchen nach möglichem Missbrauch. Die Patientin verneinte zunächst, doch am 16. April 2008 schrieb sie die ersten Zeilen nieder.

Im Juni 2009 nahm die Polizei den Beschuldigten fest, steckte ihn in Untersuchungshaft. Im Dezember 2009 begann das Verfahren vor dem Landgericht Lüneburg. Etliche Zeugen wurden gehört, Sachverständige bemüht, allein Jasmin, mittlerweile 16 Jahre alt, hat zwölfmal ausgesagt. Die Mutter, in erster Ehe selbst Opfer sexueller Übergriffe geworden, wechselte die Seiten, hält noch heute zu ihrem Mann und bezichtigt ihre Tochter der Lüge.

Jasmin habe "keine Familie mehr, die diese Bezeichnung verdient", sagte ihre Anwältin Silke Jaspert. Die 16-Jährige lebt in einem Kinderheim in Jesteburg, seit sie nach sechs Monaten die Psychiatrie verlassen hatte. "Lauter kann ein Kind nicht um Hilfe rufen", sagte Jaspert zu den Selbstverletzungen des Mädchens - unter anderem schob sich Jasmin im Sommer 2007 eine Nadel ins Knie, was eine lebensgefährliche Entzündung und monatelange Krankenhausaufenthalte zur Folge hatte. "Entwürdigend tief" sei während des Verfahrens in die Intimsphäre des Mädchens eingegriffen worden, sagte Jaspert, und gab die Schuld daran dem "perfiden Machtspiel des Angeklagten", seiner "Fortsetzung der Strategie der Erniedrigung". Dieser "sich fortsetzende Albtraum" sei mit Opferschutz an keiner Stelle vereinbar.

Nach 41 Verhandlungstagen stand auch für die Staatsanwältin fest: Der Angeklagte hat die Taten begangen. Und Jasmin werden sie "ihr Leben lang begleiten". Die Vorwürfe gegen das Mädchen von Seiten des Beschuldigten und seines Verteidigers seien "geplatzt wie eine Seifenblase", Aussagen einzelner Zeugen brachte sie in Verbindung mit einer Gefälligkeit. "Die ist doch geisteskrank", habe man argumentiert, doch Sachverständige bestritten das laut Staatsanwaltschaft: Jasmin leide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, nicht aber an Borderline oder Manien.

Dass der Bruder seine Aussage aus dem Jahr 2008 später zurückzog, nannte eine Sachverständige laut Staatsanwältin "nicht glaubhaft". Jasmins eigene Aussage dagegen habe die Gutachterin als "erlebnisgrundiert, nachvollziehbar und plausibel" beurteilt, auch die Staatsanwältin selbst nannte die Schilderungen des Mädchens "glaubhaft". Und da der Angeklagte die Vorwürfe während des gesamten Verfahrens bestritt, war die Glaubwürdigkeit der Zeugin laut Staatsanwältin die "zentrale Frage" des Prozesses.

Die ist für Ralf Pagels, Verteidiger des Angeklagten, nicht gegeben. Der Staatsanwältin warf er Polemik und fehlende Objektivität vor, der Nebenklagevertreterin Mitleiderregung. Er glaube, dass Jasmin es sei, "die uns hier mehrfach angelogen hat". Und die aus ihrer Geschichte nicht mehr herauskomme. Warum solle sieben Jahre lang niemand etwas bemerkt haben? Es habe keine Vorzeichen gegeben, von sexueller Frustration könne in der Partnerschaft keine Rede gewesen sein, der Gutachter habe keinerlei pädophile Neigungen festgestellt: "Es gibt viele Ungereimtheiten und Widersprüche, aber keine objektiven Beweise."

Jasmin nannte er einen "niedlichen kleinen Backfisch mit lolitahaftem Charme", der seine Umwelt manipuliere. Den Beschuldigten nannte er eine "gescheiterte Existenz": mehrfach vorbestraft, ungebildet, fünffacher Vater, zweimal geschieden, Kettenraucher, arbeitslos und hoch überschuldet im privaten Insolvenzverfahren. Pagels warnte das Gericht vor "uneingeschränkter Gutachterhörigkeit", geht von einem Komplott der Geschwister aus, um den strengen Stiefvater loszuwerden, und sagte: "Im Zweifel für den Angeklagten - und sei er auch noch so unsympathisch." Er plädierte auf Freispruch, Schadenersatz und ein Ermittlungsverfahren gegen Jasmin.

Die Staatsanwältin plädierte auf zwölf Jahre Haft, Jasmins Vertreterin forderte zudem ein Schmerzensgeld. Das Urteil wird gesprochen am Donnerstag, 18. November, um 13 Uhr.

* Name von der Redaktion geändert.