Uni-Präsident Sascha Spoun und Grünen-Chef Cem Özdemir rufen 1300 Erstsemester zu Individualität auf. Gegenentwurf zu Bachelorkorsett

Lüneburg. Exakt 52,50 Meter lang und 44 Meter breit ist das Kirchenschiff von St. Johannis. Platz genug für 1300 Menschen bietet Lüneburgs größte und älteste Innenstadtkirche also allemal. Allerdings nicht genug Plätze: Weil nicht viel mehr als 1000 Sitzgelegenheiten in der Johanniskirche geschaffen werden können, war sie gestern Morgen so stark und so unkonventionell gefüllt wie es nur alle zwei Jahre der Fall ist: wenn die Universität auf Einladung von Superintendentin Christine Schmid ihre neuen Studenten in der Kirche willkommen heißt.

Und die haben zu Ohren bekommen, was sie in Zeiten von klar strukturierten und vorgegebenen Lehr- und Leistungsplänen des Bachelorstudiums vermutlich nicht erwartet hätten: Sowohl der Präsident ihrer Universität als auch der Gastredner, Grünen-Bundesvorsitzender Cem Özdemir, rief die Neulinge dazu auf, die Regelstudienzeit zu überschreiten. Universitätspräsident Prof. (der Hochschule St. Gallen) Dr. Sascha Spoun ermutigte die "Hochleistungsdenker", sich an der Hochschule auszuprobieren. "Machen Sie das, was Sie nicht können. Fragen Sie nicht nach dem Praxisbezug, sondern probieren Sie aus."

Gleichzeitig machte er den Studienanfängern Mut, sich nicht sklavisch an strukturelle Vorgaben der Bachelorstudiengänge zu halten: "Die Länge Ihrer Studienzeit ist egal", sagte der Präsident. "Lassen Sie sich nicht in sechs Semester pressen."

Dass die Einhaltung der Regelstudienzeit und ein lückenloser Lebenslauf nicht ausschlaggebend für den anschließenden Job sind, sagte auch Gastredner Cem Özdemir: Wichtiger sei, ob die Person "für etwas einsteht". Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen lobte die Leuphana Universität für ihr Modell, Bachelorbewerber nicht allein nach der Abiturnote auszuwählen, und regte gleichzeitig an, ähnliche Maßstäbe bei der Bewertung möglicher Master-Studenten anzulegen und außer den Bachelornoten auch das ehrenamtliche Engagement der Absolventen in die Auswahlentscheidung einzubeziehen.

Einen weiteren, nicht allzu dezenten Hinweis an die Universitätsleitung, die nach seinen Worten "stolz" sein könne für ihr nachhaltiges Leitbild, das sie "herausstechen" lasse aus der Hochschullandschaft, hatte der Grüne ebenfalls parat: "Es gibt mittlerweile zu 100 Prozent atomfreien Strom." Özdemir hatte erfahren, dass die Uni trotz Nachhaltigkeits-Strategie keinen Ökostrom bezieht.

Dass die vor ihm in St. Johannis sitzenden jungen Menschen allesamt privilegiert seien, daran erinnerte der Bundespolitiker in seiner Rede zur Bildungspolitik. Und kritisierte, dass in Deutschland noch immer das Elternhaus entscheidend für den weiteren Lebensweg sei. "Wir können uns nicht länger ein Bildungssystem leisten, in dem die Herkunft über die Zukunft entscheidet." Özdemir sprach sich gegen Studiengebühren aus, Bildung sei ein "öffentliches Gut". Und ein Wirtschaftsfaktor: "Es gibt keinen Bereich in der Gesellschaft mit so hoher Zukunftsrendite wie Investition in Köpfe."

Özdemir verließ die Kirche zwar direkt nach seiner Rede, Bürgermeister Dr. Gerhard Scharf (CDU) widersprach dem Grünen trotzdem. "Mein Vater war Landarbeiter, meine Mutter Melkerin", sagte der Schulleiter im Ruhestand. "Das hat mich in meinem Lebenslauf nie gehindert. Es liegt am eigenen Kopf, was man aus dem Leben macht."

Dass die inhaltliche und räumliche Neuausrichtung der Universität in Lüneburg "nicht nur positive Reaktionen" hervorrufe, gab Scharf zwar zu. "Aber die große Mehrheit der Bevölkerung steht dahinter." Bevor die jungen Leute über Politik nörgeln, sollten sie sich engagieren, sagte Scharf: "Sonst treffen andere über Sie Entscheidungen."

Wie Entscheidungen an der Leuphana Universität getroffen werden, darüber sprachen die Studentenvertreter Mathias Ahrens vom Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) und Anna Thelen, Vorsitzende des Studentenparlaments in ihrer satirischen Begrüßungsrede, auf Englisch gehalten: An Leuphana sei jeder automatisch derselben Meinung, man sei schließlich "Leuphana". Das gelte auch für den Entwurf von Daniel Libeskind für das geplante Zentralgebäude. Ach, und die Universität erhalte übrigens so viel Geld von der Europäischen Union, dass sie Tomatentürme bauen müsse, um es wieder los zu werden. Und der Vizepräsident der Universität müsse eben auch nicht immer auf dem Campus sein.

Nach der Satire sagten sie: "Diese Universität ist großartig. Das war sie vor Leuphana, und das ist sie immer noch." Den neuen Kommilitonen rieten die Studentenvertreter, kritisch zu sein: "Lasst Euch nicht von Präsentationen beeindrucken, sondern hinterfragt, was Euch vorgesetzt wird. Nehmt Euch Eure Freiräume, und bildet Euch eine Stimme."

Die Erstis, wie die Erstsemestler von ihren Kommilitonen genannt werden, beginnen ihr Leben in Lüneburg nicht mit Vorlesungen und Seminaren, sondern mit der Planung der Umgestaltung von Freiflächen auf dem Uni-Campus. Das ist Teil ihrer ersten Woche an Leuphana. Vizepräsident Holm Keller will damit eine "studentische Auseinandersetzung mit den Plänen zur Umgestaltung unseres Campus'" erreichen.