“Singendes Krankenhaus“ ist ein Prädikat, das die Psychiatrische Klinik Lüneburg wegen ihres Musiktherapie-Angebots seit zwei Jahren hat.

Lüneburg. Als einziges Krankenhaus in Norddeutschland trägt die Psychiatrische Klinik Lüneburg (PLK) seit anderthalb Jahren das Siegel "Singendes Krankenhaus", und nächste Woche findet dort die Jahreskonferenz des gleichnamigen Vereins statt. Doch ein singendes Krankenhaus ist die für die Landkreise Lüneburg und Harburg zuständige Fachklinik eigentlich schon seit 30 Jahren - nur ohne Stempel.

"Ich singe hier am längsten", sagt der ärztliche Direktor der PKL, Dr. Sebastian Stierl, und fügt mit einem fröhlichen Lachen hinzu: "Obwohl ich mit Singen eigentlich gar nichts am Hut habe. Als Kind durfte ich nicht einmal in den Schulchor." Doch als der Psychiater Anfang der 1980er-Jahre als Assistenzarzt auf einer Langzeitstation einer anderen Klinik arbeitete, in der die Patienten lebten, da merkte er schnell: Eine psychische Erkrankung gepaart mit Reizarmut führt zu Apathie, Interesselosigkeit und innerer Leere. "Es herrschte die blanke Not, irgendetwas zu machen", sagt der Arzt im Rückblick auf eine Zeit, in der Psychiatrie noch deutlich anders gelebt wurde als heute.

"Geschlossene Frauenhauptunruhe" hieß die Station damals, und mit diesen Frauen hat der junge Nachwuchspsychiater etwas ganz schlicht und Ergreifendes getan: Er hat angefangen, mit ihnen zu singen. Einfache deutsche Volkslieder. Er kannte die Melodien, die Patientinnen kannten die Texte. Was dabei entstand, war ein "anrührender, irritierend positiver Effekt", sagt Stierl.

Und: Das Singen war ein Mittel, ohne materielle und finanzielle Voraussetzungen etwas mit den Patienten zu machen. Etwas Positives. Im Kampf gegen die Langeweile.

Das funktionierte so einfach allerdings nur auf der Frauenstation, bei den Männern zunächst nicht. Dann hat sich der junge Arzt eine Gitarre gekauft, sich das Spielen beigebracht - und dann klappte es auch mit den Männern und dem Singen. 1989 wechselte Stierl ans damalige Landeskrankenhaus Lüneburg, und seither singt er ohne Unterbrechung jeden Freitagnachmittag mit seinen Patienten - ob als Arzt oder ärztlicher Direktor. Und auf jeder Station gibt es Notenbücher und eine Gitarre.

Gute Voraussetzungen also für die Idee, die Claudia Schubert vor vier Jahren hatte. Da begann die Sozialarbeiterin ihren Job als Leiterin des neuen Sozial- und Kulturzentrums der Klinik, und sie schlug ihrem Chef die Gründung einer übergreifenden Singgruppe vor, für alle Stationen, ob ambulant oder stationär. Stierl war natürlich einverstanden, Schuberts Kollegin machte eine Singleiterausbildung und gründete die Gruppe "Heilsames Singen", die dem Krankenhaus im Oktober 2010 das Siegel "Singendes Krankenhaus" verschaffte.

Seit August vergangenen Jahres leitet Musiktherapeut Andreas Paff die Gruppe, bildet sich kontinuierlich im Bereich "heilsames Singen" fort. "Das ist wie bei einem Konzert. Claudia Schubert und ich kreieren eine Atmosphäre, und alle haben direkten Anteil daran und sind Teil davon. Bei der Therapie und auf der Station geht es um Kommunikation und Offenlegung", sagt der Musiktherapeut. "Hier weniger. Wir wiederholen bestimmte, ganz einfache Texte wie Mantren." Kollegin Claudia Schubert ergänzt: "Das verringert die Hemmschwelle. Wir geben den Teilnehmern auch Instrumente. Dabei entsteht ein besonderes Gefühl, und Lachen oder Weinen ist natürlich auch erlaubt."

Singen ist wichtig für die Psychohygiene - nicht nur bei psychisch Kranken. "Singen ist heilsam, weil es uns Menschen gut tut. Und was jedem Menschen gut tut, tut auch dem psychisch Kranken gut", sagt Psychiater Stierl. "Singen ist eine wesentliche Möglichkeit des inneren Ausdrucks und gemeinsamen, sinnvollen Tuns. Das Soziale stellt sich ganz automatisch ein, es braucht dazu keine Regeln außer den Rhythmus." Auf Esoterik könne das heilsame Singen dabei verzichten.

Psychotische Störungen sind immer Beziehungsstörungen, und die Aufgabe der Psychiatrie ist es, die Störung eines Menschen zu seiner Umwelt zu überwinden. Genau das entsteht bei Musik und Singen, sagt Stierl, und zwar ganz spontan. "Zum Glück ist der Bereich mittlerweile raus aus seinem Mauerblümchendasein. Die Singrunde ist zwar eine Singrunde und keine Therapie. Aber sie ist therapeutisch wirksam."

Und sie soll den Patienten für ihre Zeit außerhalb und nach der Klinik Sicherheit vermitteln. Damit sie zum Beispiel Anschluss an einen Chor finden, etwa in einer Gemeinde, und dort auch außerhalb des Krankenhauszusammenhangs weiter singen. Singen in Psychiatrien braucht daher mehr gesellschaftliche Anerkennung, fordert der Lüneburger Psychiater. Weil es eine wesentliche Erweiterung der Arbeit mit schwer Kranken ist, die sprachlich nicht mehr zu erreichen sind, bei denen der Fokus auf Medikamente reduziert wird. "Und das ist eine Sackgasse."