Das TUHH-Orchester SymphonING spielt heute im Audimax I der Technischen Universität Hamburg-Harburg - der Eintritt ist frei.

Harburg. Sarah Kramer, 29, weiß, was sie in ihrem Leben will. Sie will nicht mehr als Polizistin arbeiten - den Beruf hat sie an den Nagel gehängt, weil er nicht zu ihr passte. Sie will ihr Bachelor-Studium Logistik und Mobilität an der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH) mit Bravour abschließen, um Logistik-Ingenieurin zu werden. Und sie will Geige in einem Orchester spielen.

In ihrem TUHH-Studiengang fühlt sich die Harburgerin "wohl", sie macht gerade ein Praktikum bei Airbus im Bereich Supply Chain Management. Mit vollem Herzblut ist Sarah Kramer bei der Sache, wenn sie ihre Geige auspackt und mit den Musikern von SymphonING - so heißt das Orchester der TUHH - im Audimax I probt. Im SymphonING spielen je nach Semester bis zu 50 Studenten, wissenschaftliche Mitarbeiter, Doktoranden und Musikschüler der Akademie Hamburg für Musik und Kultur unter der Leitung von David Dieterle, 39. Auf dem Programm stehen bekannte und unbekannte Stücke bekannter und unbekannter Meister - von Ludwig van Beethoven bis zu Camille Saint-Saens. Bis zu 500 Zuhörer kommen zweimal im Jahr in das Audimax I und lauschen den Klängen des TUHH-Orchesters.

An diesem Probenabend beginnen die Amateurmusiker mit dem Klavierkonzert Nr. 2 As-Dur von John Field. David Dieterle probt ein Rondo-Thema aus dem letzten Satz. "Alle vier bis acht Takte wird ein neuer Charakter vorgestellt", erklärt David Dieterle den Musikern. "Zuerst Pipi Langstrumpf, dann der Verliebte, dann der Verrückte und schließlich der Grübler."

David Dieterle erläutert den Akademikern nur selten, was sie wie zu spielen haben. "Da reicht oft ein lustiges Bild, und meine Musiker spielen wie ausgewechselt", sagt der Dirigent und Solobratschist. "Manche Musiker kommen nach acht Stunden im Hörsaal zu den Proben. Ich muss die dann aus der Reserve locken. Deshalb arbeite viel mit Bildern und singe viel vor. Die eigentliche Probenarbeit besteht darin, dass ich bei diesen jungen Menschen Feuer für die Stücke entfache."

Sarah Kramer spielt die erste Geige im SymphonING und ist damit Konzertmeisterin. Das Geigenspielen hat sie von Kindesbeinen an mit ihren beiden Schwestern gelernt - ihre Mutter ist Cellistin. Schon als Schülerin am Vincent-Lübeck-Gymnasium in Stade hat sie im Schulorchester Bratsche gespielt. Bei SymphonING verpasst sie keine Probe. "Davids Stückauswahl ist immer wieder toll", sagt die Harburgerin, "es herrscht ein lockerer Umgang mit dem Dirigenten und in der Gruppe - die Proben sind sehr lustig und entspannt, und wir lachen viel. Spaß steht bei SymphonING an erster Stelle."

Jonas Eymann, 30, promoviert am TUHH-Institut für Kommunikationsnetze. Er forscht darüber, wie man das Internet mit dem heutigen Kenntnisstand designen würde. Mit neun Jahren fing er in Schwäbisch Hall an, Geige zu spielen, auch im Musikschulorchester. Auch als Student an der TU Dresden spielte er sechs Jahre lang Bratsche im Studentenorchester medicanti. Seit März 2010 ist er Stimmführer der drei TUHH-Bratschen. "In jedem Fall will ich Musik machen", sagt Jonas Eymann, "das kann man als Streicher besonders schön in einem Orchester."

Der wissenschaftliche TUHH-Mitarbeiter findet das SymphonING-Programm "abwechslungsreich und unterhaltsam. David ist ein Dirigent mit einer Engelsgeduld. Wir holen mit viel Spaß und Freude ganz viel aus den Stücken heraus. Ganz gleich wie schwer der Stoff ist: am Ende des Semesters ist die Musik gut vorführbar."

Auch David Dieterle hält große Stücke auf seine Musiker. "Die Arbeit mit den jungen Leuten ist sehr erfrischend. Die Studenten nehmen meine manchmal eigenwilligen Vorschläge oft begeistert an und machen mit großer Freude mit." Er könne, sagt der Dirigent, mit SymphonING "alles ausprobieren, was ich möchte - was ich machen will, das mache ich. Wir haben ja viel Zeit, das Programm einzustudieren und umzusetzen. Natürlich brauchen Amateure viel mehr Zeit als Profis. Aber sie sind formbarer und setzen das dann mit Leib und Seele um."

Gewiss, räumt der Dirigent ein, der Anfang der Probensaison sei bisweilen ein wenig mühsam. "Es gibt dann manchmal Situationen, wo ich das Stück nicht sofort wieder erkenne", sagt David Dieterle schmunzelnd. Dann kann er auch ironisch werden und skandiert: "Ihr spielt gerade so, als würdet ihr eine Maus zertreten!"

Überraschende Werke stehen bei SymphonING auf dem Programm. Einmal gaben die Musiker eine Version von "Nothing Else Matters" der US-amerikanischen Metal-Band Metallica zum Besten, bearbeitet von einer Komponistin, die nicht genannt werden möchte.

David Dieterle steht SymphonING seit dem Wintersemester 2004/5 vor. Das Orchester trifft sich nicht nur zum Musizieren, sondern auch zum Glühweintrunk und zum Schlittschuhlaufen und zieht gemeinsam auf die Piste von St. Pauli. Zwei Wochen nach jedem Konzert steigt eine große Orchesterparty - dann stellt David Dieterle die Stücke vor, die ihm im kommenden Semester vorschweben.

Höhepunkt der Probensaison ist das Wochenende auf Schloss Noer bei Kiel. "Das sind wichtige Tage für uns, und das schweißt zusammen", sagt David Dieterle. Zum Ritual auf Schloss Noer gehört es, dass die Musiker nach getaner Arbeit "Die Werwölfe von Düsterwald" spielen. "Das Spiel hat viel mit Psychologie zu tun", sagt David Dieterle, "man lernt dabei, wie die Leute mal sein möchten. Die Leute, die im Orchester eine tragende Rolle spielen, haben auch beim Spiel eine große Klappe."

David Dieterle liebt das Spiel, "weil ich dabei andere Menschen manipulieren kann. Wenn man bei den 'Werwölfen' schauspielerisches Talent hat, kommt man sehr weit." Ein Talent, das er auch bei seinen Proben mit den SymphonING einsetzt. "Bei diesem Orchester gehört nicht nur das Fachliche, sondern auch das Schauspielerische dazu, damit die Musiker verstehen, was ich am Ende hören möchte."

So hat Dirigieren also auch etwas mit - positiver - Manipulation zu tun. Auf Schloss Noer hat David Dieterle bei den "Werwölfen" aber nicht mehr so viel Erfolg: "Mittlerweile werde ich schon auf Verdacht hin gemeuchelt."