Verwundert lässt Else H.* ihren Blick durch den Verhandlungssaal des Amtsgerichtes Lüneburg schweifen. Wie zur Sicherheit schaut sie immer wieder auf ihren Reisepass, den sie vor sich auf die Anklagebank gelegt hat.

Es hat den Anschein, als wüsste sie nicht, wo sie ist. Verlegen kratzt sie sich am Kopf, von dem ihr kurzes graues Haar widerspenstig absteht. "Ich will es nicht mehr tun", sagt die kleine stämmige Frau plötzlich unaufgefordert und laut.

"Können Sie sich an die Tat erinnern?", fragt der Richter überrascht. Else H. reagiert nicht. Der 64-Jährigen wird vorgeworfen, in einem Supermarkt eine Flasche Magenbitter und eine Flasche Fruchtlikör im Wert von insgesamt 4,95 Euro "unbezahlt behalten" zu haben, wie es im Amtsdeutsch heißt. "Geben Sie das zu?", fragt der Richter. "Muss ich doch oder?", antwortet die Angeklagte.

Else H. wurde in Pommern geboren und hatte es nicht leicht im Leben. Nachdem sich ihr Mann aus dem Staub gemacht hatte, hielt sie sich und die vier Kinder als Küchenhilfe über Wasser. Schon damals muss sie ab und zu zuviel getrunken haben, denn immer wieder kam sie wegen des Alkohols mit dem Gesetz in Konflikt, beging kleine Diebstähle oder ließ sich zu Beleidigungen hinreißen. Einmal wurde sie sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. "Können Sie sich daran erinnern?", will der Richter wissen. Die Angeklagte winkt ab.

Es ist nicht viel, woran sich die kleine Frau, die während der Verhandlung abwesend und teilnahmslos wirkt, erinnern kann. Dann springt ihr Betreuer ein und versucht mit Hilfe seiner Unterlagen zu rekonstruieren, wie es dazu kam, dass Else H. an diesem Tag zwei Flaschen Schnaps stahl. Vor wenigen Jahren erst kam die Rentnerin nach Lüneburg und lebt hier in einer Unterkunft für Wohnungslose. Nach Aussage verschiedener Ärzte ist sie aufgrund ihres jahrelangen Alkoholmissbrauchs pflegebedürftig und leidet an Demenz. Deshalb war sie vorübergehend in einem Pflegeheim untergebracht. Nun wird sie an drei Tagen pro Woche in einer Tagesstätte betreut.

Richter und Staatsanwalt tauschen einen Blick. Ist die Angeklagte überhaupt schuldfähig? Das zu ermitteln würde aufwendige Gutachten erfordern, die in der Abwägung zum geringen Schaden von Richter und Staatsanwaltschaft als unverhältnismäßig eingeschätzt werden. So wird das Verfahren gegen Else H. eingestellt. Die sieht nur verständnislos in die Runde und schlurft hinter ihrem Betreuer aus dem Saal. (* Name geändert)