Abendblatt-Mitarbeiterin Rachel Wahba begleitete die Novotnys bei ihrer Reise in die Ukraine.

Bila Zerkwa

Ankunft im Flughafen Borispol bei Kiew. Helga, Peter und André Novotny aus Scharnebeck von der Stiftung "Hof Schlüter" werden schon von Kolja Daschkewitsch erwartet. Die Novotnys fliegen jedes Jahr in die Ukraine. Sie kontrollieren, ob die Hilfsgüter, die die Stiftung per Lkw nach Bila Zerkwa schickt, auch dort angekommen sind, wo sie gebraucht werden. Stiftungsvorstand Peter Novotny: "Wer dieses Elend, das hier herrscht, mal gesehen hat, weiß, warum wir all diese Mühe und Arbeit auf uns nehmen, um wenigstens ein wenig zu helfen." Daschkewitsch arbeitet in der 220 000-Einwohner-Stadt Bila Zerkwa, 80 Kilometer südlich von Kiew, für die Stiftung. Er verteilt die Hilfsgüter aus Deutschland und erledigt alle Angelegenheiten mit dem Ukrainischen Zoll.

Nach über drei Stunden Flugzeit geht es jetzt mit dem Auto durch Kiew, vorbei an der größten Baustelle des Landes. Mehrere Millionen Dollar gibt die Ukraine derzeit für den Bau des neuen Fußballstadions am Rande der pulsierenden Millionen-Metropole Kiew aus, in der Hoffnung, den Zuschlag als Austragungsort für die EM im Jahr 2012 zu behalten. Das Ziel an diesem ersten Tag ist Slagoda, eine Auffangstation für Straßenkinder in Bila Zerkwa.

Je weiter sich die Reisenden von der Hauptstadt entfernen, umso ärmlicher und trostloser wird das Land. Eine Stunde später kommen die Novotnys in Bila Zerkwa an, eine Stadt die im April 1986 einen Hauptteil der atomaren Wolke aus dem Reaktor Tschernobyl abbekommen hat. Noch heute kommen hier missgebildete Kinder zu Welt, noch heute sterben hier Kinder an Leukämie, weil ihre Eltern kein Geld für die Behandlung haben. Das durchschnittliche Monatsgehalt beträgt umgerechnet rund 60 Euro, eine einzige Chemo-Therapie kostet rund 3000 Euro. Eine Krankenversicherung gibt es nicht. Die Straßen in dem Viertel von Bila Zerkwa sind zum größten Teil nicht asphaltiert. Im Sommer verwandeln sie sich in staubige Schlagloch-Pisten. Kleine ärmliche Häuschen stehen hier. In den Gärten wird Gemüse angebaut. Frisches Gemüse auf dem Markt ist zu teuer. Kaum ein Haushalt hat fließendes Wasser. Die meisten Familien müssen sich ihr Wasser an den öffentlichen Pumpen holen. Im Hintergrund bilden herunter gekommene Plattenbauten aus sozialistischen Zeiten eine triste Kulisse. Hinter einer grauen Betonmauer liegt Slagoda. Hier leben Kinder, die von ihren Eltern abgegeben werden, weil das Geld zum Leben nicht mehr ausreicht und Kinder, die ihren Eltern weggenommen werden, weil sie misshandelt wurden. Alkohol ist nach wie vor ein großes Problem in der Ukraine, denn Wodka ist billig. Hier in Slagoda finden die Kinder eine erste Unterkunft, bis sie an eines der Waisenhäuser der Stadt weiter gereicht werden. Mehr als drei Mahlzeiten für die Kinder kann sich die Stadt nicht leisten. Kinder aus armen Familien haben hier keine Lobby.

Die Besucher treten durch ein grün gestrichenes Eisentor. Dahinter leben 35 Kinder, vom Kleinkind bis zum Jugendlichen, in zwei Schlafsälen in dem herunter gekommen alten Haus. Im Garten stehen einige uralte eiserne, teilweise verrostete Spielgeräte, die in Deutschland jede Elterninitiative auf die Barrikaden treiben würden. Hier gibt es keine Elterninitiative.

Wer nach Slagoda kommt, besitzt kaum mehr als das Zeug, das er am Leib trägt. Natascha Petrowna, Leiterin von Slagoda, bittet den Besuch in ihr Büro. Sie erzählt, die Situation habe sich, was die Ernährung der Kinder angehe, in den letzten drei Jahren etwas gebessert. Zu essen gebe es genug. Sie bekomme sogar so viel Geld von der Stadt, dass sie auch mal Obst und Gemüse einkaufen könne. Schuhe, Kleidung, Schulsachen und Spielsachen? Die junge Frau lächelt: "Da muss ich Sponsoren finden, die helfen."

Und die sind in der Ukraine rar gesät. Fünf Prozent der Bevölkerung ist reich, der Rest der Menschen lebt an der Armutsgrenze oder hat überhaupt nichts, wie die Kinder von Slagoda.

Die zwölf Jahre alte Marina hält ihren kleinen Bruder Atiom (drei) fest an der Hand. Der Kleine kann kaum sprechen, auf seinen Beinchen ist er noch etwas unsicher, verängstigt klammert er sich an seine große Schwester. Als ihre Mutter starb, haben Marina und ihre sechs Jahre alte Schwester Vica versucht, mit Atiom bei Verwandten unter zu kommen. Niemand wollte die Kinder haben. Völlig verwahrlost landeten sie in Slagoda. Einen Vater gibt es nicht, der ist verschwunden. Papiere haben die Kinder nicht.

Natascha zeigt die beiden Schlafsäle. Hier steht Bettchen an Bettchen. Bettdecken und Kopfkissen scheinen mit dem Lineal gefaltet. Stofftiere sitzen auf kleinen Schränkchen an den Wänden. Ein beißender Uringestank setzt sich in den Nasen der Besucher fest. 35 Kinder teilen sich zwei Toiletten neben den Schlafsälen. "Wir haben noch zwei Räume, aber in denen können wir die Kinder nicht schlafen lassen, weil die Räume renoviert werden müssten", sagt Natascha. Die Anfrage bei der Stadt nach Unterstützung kann sie sich sparen. Hilfe kommt fast ausschließlich von der Stiftung "Hof Schlüter".