Erinnerung: Der Künstler Gunter Demnig verlegt Gedenksteine für NS-Opfer in Lüneburg

Wenn Wunden zu Perlen werden

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Sandra Bengsch

Ein "Stolperstein" erinnert seit gestern an Charlotte Regenthal. Für Bruder Gerhard endet damit eine Spurensuche.

Lüneburg. Kalt ist es. Feiner Nieselregen legt sich wie ein feuchter Film auf den Asphalt und vermischt sich dort mit weißem Steinstaub. Kurz zuvor hat Gunter Demnig mit der Flex Platz geschaffen auf dem Bürgersteig. Mit geübten Händen setzt er eine Gedenktafel aus Messing in den Boden, einen "Stolperstein".

Drei neue Messingsteine hat der Objektkünstler Demnig gestern in Lüneburg verlegt. Erinnern sollen sie an Theodor Jenckel, Anna Friebe und Charlotte Regenthal. Alle wurden zwischen 1941 und 1942 Opfer der sogenannten "T4-Aktion" beziehungsweise der "Kinder-Aktion" - Tarnbezeichnungen für die systematische Ermordung von Psychiatrie-Patienten und behinderten Menschen durch SS-Ärzte und -Pflegekräfte.

Seit 2004 erinnert die Bildungs- und Gedenkstätte "Opfer der NS-Psychiatrie an die Lüneburger Opfer. Raimond Reiter zeichnet für das Konzept der Gedenkstätte verantwortlich. Er sagt: "Die genaue Opferzahl ist bisher nicht bekannt." Im Rahmen der T4-Aktion waren es deutschlandweit aber sicher mehr als 71 000." Allein in der "Kinderfachabteilung" der damaligen der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, des heutigen Landeskrankenhauses, wurden mehr als 300 geistig und körperlich behinderte Kinder umgebracht. Darunter auch Charlotte Regenthal.

Dank der Initiative ihres Bruders, Gerhard Regenthal, erinnert nun ein eigener "Stolperstein" an Charlottes Schicksal. "In gewisser Weise ist dieser persönliche Stein des Erinnerns der Abschluss einer Spurensuche", sagt Gerhard Regenthal. Im Sommer 2008 führte diese den 61-Jährigen nach Lüneburg. Über die Gedenkstätte stellte er den Kontakt zu Raimond Reiter her. "Herr Reiter hat mir geholfen, Einblick in Charlottes Patientenakte zu bekommen", berichtet Regenthal.

Die intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit riss zunächst alte Wunden auf. Regenthal erklärt: "Ich wurde 1947 geboren, also lange nach dem Tod meiner Schwester. Meine Mutter hatte sich ein Mädchen gewünscht, einen Lotti-Ersatz. Ich hatte lange das Gefühl, in ihrem Schatten zu stehen." Regenthal reagierte mit Wut und Aggression auf seine verstorbene Schwester.

Auch heute wirft Charlotte noch Schatten auf Regenthals Leben. "Aber die Bedrohung hat sich in ein Gefühl der Stärkung gewandelt." Mit sich und seinen Erinnerungen ist er im Reinen - dazu hat auch die Spurensuche beigetragen. Regenthal: "Dass ich heute so offen über alles sprechen kann, zeigt mir, wie wichtig die Aufarbeitung der Vergangenheit für mich war."

Regenthal möchte andere Betroffene mit seinem Beispiel ermutigen, sich den Erinnerungen zu stellen. Für ihn endet die Spurensuche positiv. Mit den Worten einer bekannten Dichterin beschreibt er es so: "Wunden sind zu Perlen geworden."

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