Ein neues Projekt gibt den Verweigerern eine zweite Chance

Lüneburg. "Begonnen hat alles in der neunten Klasse. Ich hatte als Zeugin bei der Polizei ausgesagt. Die hat dann meinen Namen weiter gegeben und von da an wurde ich gemobbt." Kerzengerade sitzt die 20-jährige Mandy* auf dem Stuhl. Selbstbewusst blickt die junge Frau mit dem glatt gekämmten langen Haar in die Runde, während sie von ihrem persönlichen Desaster berichtet - das nunmehr hinter ihr liegt.

Man habe sie als Verräterin gescholten. Mitschüler drohten ihr Schläge an. Lehrer warfen sie aus dem Unterricht. Die Gerüchteküche an der Christiani-Schule kochte auf höchster Flamme und der Stress für Mandy wurde unerträglich groß. "Anfangs habe ich mal geschwänzt - später dann durchgehend. 63 Tage in einem Schuljahr."

Ihre Leistungen nahmen ab, der Realschulabschluss war gefährdet. Mandy suchte nach Hilfe. Sie sprach die Sozialpädagogin der Schule an und den Rektor. Doch statt Hilfe erfuhr sie weitere Ablehnung.

Mandy suchte nach Hilfe, doch sie erfuhr nur Ablehnung

Erst als die Wiederholung der zehnten Klasse anstand und Gunda Ennen von Mandys Problemen informiert wurde, wendete sich das Blatt. Ennen, vom Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE), koordiniert und leitet seit 2006 das Projekt "Schulverweigerung - Die 2.Chance". Es wurde Mandys Chance.

Mit Gunda Ennens Hilfe schaltete sich das Jugendamt ein. Mandy zog Zuhause aus. Sei wechselte auf die Hauptschule. Dank Betreuung, Nachhilfe und Förderunterricht gelang ihr der Realschulabschluss. "Die Vorurteile einiger Schüler blieben zwar auch weiterhin bestehen, doch unterstützten mich die Lehrer", sagt Mandy, die seit neun Monaten eine Ausbildung zur examinierten Altenpflegerin macht.

Wie viele Schulverweigerer es in der Lüneburger Region gibt, ist nicht hat erfasst. Doch wie drängend das Problem ist, zeigt allein die Existenz des Projekts "Schulverweigerung - die zweite Chance". Es wendet sich an Jugendliche zwischen elf und 15 Jahren. Geboten werden individuelle Einzelbetreuung sowie Gruppengespräche und Förderunterricht. Wenn nötig gehen die Mitarbeiter auch jeden Morgen zu einem Kandidaten nach Hause und holen ihn persönlich zur Schule ab.

"Wir reden mit allen Beteiligten: Jugendlichen, Eltern, Lehrern und eventuellen Betreuern der Jugendhilfe. Wir erarbeiten ein Unterstützungsprojekt und bringen alle erdenkliche Hilfe für den Jugendlichen auf den Weg", sagt Gunda Ennen. Junge Menschen wie Mandy, die offensiv Hilfe suchen, seien eher selten.

Das Projekt ist kostenfrei und wird von Bund und EU gefördert

Hilfen für die Betroffenen sind kostenfrei. Das Projekt fördern das Bundesinnenministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Europäische Union und der Europäische Sozialfonds für Deutschland. In der Lüneburger Koordinierungsstelle Am Berge agiert neben Ennen die Sozialpädagogin Silke Westermann. Mittlerweile kooperieren 13 Allgemeinbildende- und Förderschulen in Stadt und Land mit dem VSE.

Am Schulstandort Bleckede, einem sozialen Brennpunkt, betreut Bärbel Benen eine Gruppe Schulverweigerer. Darunter Viktor*, der auf Drängen einer Lehrerin in das Projekt gelangte. "Bei Viktor waren es nicht die Fehlzeiten, sondern sein Verhalten", sagt Hauptschullehrerin Marina Ahrend. Zur ersten Verabredung mit Sozialpädagogin Benen erschien Viktor zu spät, aber er kam. Schnell wurden die Gründe für das nervende Verhalten des 16-Jährigen erkannt: Er leidet an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, die er zu überspielen versuchte. "Jetzt besucht er eine Lerntherapie, seine Noten verbessern sich, sein Selbstbewusstsein nimmt zu", sagt sein Vater.

Für Pädagogin Ahrend ist das Schulverweigerungs-Projekt ein Glücksfall. "Es dauert, bis man dahinter kommt, warum jemand schwänzt oder in die innere Verweigerung geht." Die Hauptschule sei ein Sammelbecken sozial auffälliger Schüler und das Kollegium überlastet.

Eine Statistik, wie viele Kinder sich verweigern, gibt es nicht. "Man geht davon aus, dass bis zu 15 Prozent aller Schüler die Schule schwänzen", sagt Projektleiterin Ennen.

* Namen geändert