Wentorf. Etwas müde steht Peter Gaßmann am Freitagvormittag hinter dem Verkaufstresen in seiner Rats-Apotheke an der Hauptstraße in Wentorf. Der Arbeitstag zuvor war lang, der promovierte Apotheker hat nach Ladenschluss wieder Stunden damit zugebracht, seine Lager so gut als möglich aufzufüllen und Medikamente zu beschaffen. Das ist derzeit alles andere als leicht: „250 gängige Arzneimittel sind aktuell nicht lieferbar“, sagt der 54-jährige Wentorfer. Darunter sind nicht nur Fiebersaft und Fieberzäpfchen für Kinder, sondern auch Antibiotika, Cholesterinsenker und Elektrolytlösungen.
Laut einer Umfrage des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller haben 18 Prozent der Bundesbürger Schwierigkeiten oder Knappheit bei Medikamenten erlebt. Für Apotheken sind die Engpässe ein Ärgernis, da sie für Patienten Alternativen zu Medikamenten finden oder teilweise selbst herstellen müssen – das ist aufwendig und teuer. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt derzeit etwa 300 Meldungen zu Lieferengpässen auf – bei rund 100 000 zugelassenen Arzneimitteln in Deutschland. Für viele knappe Medikamente gibt es aber Alternativen. „Ein Lieferengpass muss daher nicht gleichzeitig ein Versorgungsengpass sein“, betont die Behörde. Derzeit gebe es nur rund zehn Meldungen zu versorgungskritischen Wirkstoffen. Die Behörde sieht „keine Hinweise auf eine generelle akute Verschlechterung der Versorgungslage in Deutschland“.
Lieferengpass: Immer mehr Medikamente auf der Liste
Trotzdem: Solche Engpässe hat Gaßmann in 17 Jahren als selbstständiger Apotheker mit zwei Filialen noch nicht erlebt: „Üblicherweise fehlen 20 bis 30 Medikamente“, sagt Gaßmann. Jetzt sind es zehnmal so viele. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von gestörten Lieferketten – aus China und Indien kommt ein großer Teil der Arzneiwirkstoffe – über Personalmangel an deutschen Produktionsstandorten bis hin zu Rabattverträgen, geschlossen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern. Aus Peter Gaßmanns Sicht sind Letztere besonders „schädlich für die Strukturen unseres Gesundheitssystems“. Er fordert in Richtung Politik ein Umdenken: „Wir müssen mit dieser Geiz-ist-geil-Mentalität im Gesundheitswesen aufhören. Mit dem höchsten Gut der Bevölkerung – der Gesundheit – sollte man kein Geld sparen.“
Seit Sommer wird die Liste nicht lieferbarer Medikamente immer länger. Der Wentorfer Apotheker glaubt nicht, dass sich die Situation schnell entspannt. Im Gegenteil. Fiebern oder Schmerzen aushalten müssen Kunden dennoch nicht: „Wir bemühen uns, Alternativen zu finden“, sagt er. Manchmal werden die Wirkstoffmengen pro Tablette angepasst (statt einmal 40 zweimal 20 mg), um die gleiche Wirkung zu erzielen. Ein anderes Mal greift er auf ein anderes Präparat mit anderen Wirkstoffen zurück. Zuvor hält er mit den Ärzten Rücksprache. Deren Praxen sind allerdings in der aktuellen Krankheitswelle selbst überlastet und telefonisch schwer erreichbar. „Da geht viel Zeit drauf. Zeit, die für Serviceleistungen fehlt“, sagt Gaßmann frustriert. So wäre es ein Leichtes für ihn, die seit Sommer ausverkauften Elektrolytlösungen selbst herzustellen. „Dazu kommen wir aber nicht“, sagt Gaßmann. Stattdessen gibt er Kunden nun ein Rezept zum Selbstanrühren mit. Elektrolyte braucht der Körper, wenn er viel Flüssigkeit während einer Magen-Darm-Infektion verloren hat.
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Drei Stellen sind derzeit unbesetzt – Arbeit zu wenig honoriert
Manche Kinder fiebern dann auch hoch. Nur Fiebersaft können Eltern nicht selbst anrühren, und Peter Gaßmann kann ihn nur schwer besorgen. Seine wenigen Verpackungen gibt er nur noch an diejenigen raus, die sie auch wirklich brauchen beziehungsweise ein Rezept vorweisen können. Allen anderen rät er, „sich ans Telefon zu hängen und Apotheken in der Umgebung abzutelefonieren oder auf alte Hausmittel wie kalter Aufschlag auf die Stirn zurückzugreifen“.
Medikamentenmangel ist ein Problem, mit dem sich derzeit die gesamte Branche rumschlagen muss, Personalmangel das andere. Derzeit sind drei Stellen in der Rats-Apotheke vakant. Dass sich immer weniger Menschen für den Beruf des Apothekers entscheiden, kann er verstehen. „Der Beruf ist durch die zunehmende Bürokratie und Lasten nicht gerade attraktiv. Wir Apothekeninhaber warten seit 20 Jahren auf einen angemessenen Inflationsausgleich. Die Arbeit wird – parallel zum Pflegesystem – zu wenig honoriert.“ Viele Berufskollegen seien zur besser bezahlenden Pharmaindustrie gewechselt.
Stimmungsbarometer auf Tiefpunkt
Die Stimmung in Apothekerkreisen ist laut APOkix, dem Stimmungsbarometer im deutschen Apothekenmarkt, auf dem Tiefpunkt. Viele sind mit der Mehrarbeit und den Lieferengpässen unzufrieden. Auch die Zukunftserwartung ist bei den meisten angesichts drohender höherer Kassenabschläge ab kommenden Jahr getrübt.
In Wentorf sieht es nicht anders aus, dennoch denkt Gaßmanns keineswegs ans Aufgaben: „Die Aufgabe, Menschen zu helfen, gibt mir ein gutes Gefühl und ist erfüllend“, sagt er. Er selbst stammt aus einer Apothekerfamilie und konnte sich keinen besseren Beruf vorstellen.
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