Wentorf. Es ist gut erhalten: Beim Aufschlagen des alten Buches stehen die Namen der Schüler der Klasse 4 b der Lagervolksschule vornan. Akkurat und gewissenhaft hat Klassenlehrerin Anna-Luise Tolle sie damals neben den Geburtsdaten - alle zwischen 1944 und 1946 - und Geburtsorten verzeichnet.

Auch die Namen der Eltern, die Konfession sowie der Beruf des Vaters sind notiert. Das Dokument ist jetzt wieder aufgetaucht. Gemeindearchivar Dr. William Boehart hat es von seinem Kollegen für Reinbek, Glinde und Barsbüttel, Dr. Carsten Walczok, erhalten.

Eine besondere Bedeutung hat es für Fritz Tolle (67) aus Isernhagen, der es in einer Kiste aus dem Nachlass seiner Mutter gefunden hat: "Wentorf war für uns die grenzenlose Freiheit", erinnert sich der 67-Jährige. "Wir gingen vormittags zur Schule und waren danach uns selbst überlassen. Das haben wir genossen." Dass er von der eigenen Mutter unterrichtet wurde, kümmerte ihn wenig, und Spielkameraden hatte er genug: 1400 Kinder haben die Lagerschule einst besucht. "In unserer Schulklasse waren wir immer zwischen 30 und 40 Kinder. Es war drangvoll eng. Wir spielten Räuber und Gendarm und machten eine Menge Unfug - herrlich!", erzählt er. Das Spielgelände der Kinder seien die Knicks der wunderbaren Landschaft und die Nebengebäude der Kasernen gewesen.

Denn das Lager befand sich auf dem ehemaligen Wehrmachtsgelände, das die Nazis in den 1930er-Jahren aufbauten. Nach Kriegsende wurden hier "Displaced Persons" (DP) untergebracht. Boehart erläutert: "Hier entstand damals eine richtige Lagerstadt für verschleppte und vertriebene Personen, für ehemalige Zwangsarbeiter und Flüchtlinge." Überwiegend waren es ehemalige polnische, sowjetische und jugoslawische Kriegsgefangene. Im Lager gab es eine eigene Polizei, Verwaltung und eben auch eine Schule für die Kinder. Aus dieser Zeit besitzt das Archiv bereits ein Klassenbuch aus dem Jahr 1950. Die Lagerkartei wird im schleswig-holsteinischen Landesarchiv aufbewahrt.

Das jetzt neu aufgetauchte Klassenbuch für das Wentorfer Archiv stammt aus einer späteren Phase: Denn nach dem Lager für DPs entstand auf dem einstigen Militärgelände ein Durchgangslager für Flüchtlinge, das erst 1960 geschlossen wurde. Die Menschen kamen aus der ehemaligen Sowjetzone und der DDR, waren aber auch Heimatvertriebene aus den Ostgebieten. "Unsere Familie kam aus Stendal", erzählt Fritz Tolle. "Nachdem 1953 der Aufstand niedergeschlagen worden war, wurde es brenzlig für meinen Vater. Wir flüchteten zuerst nach Berlin, kamen dann nach Wentorf." Sehr lebendig ist auch noch seine Erinnerung an die "Plombenzieher", die es am Kiosk gab: "Plomben hatten wir ja noch nicht, und die Bonbons hatten einen wunderbaren Duft." 1955 kam er aufs Hansagymnasium in Bergedorf, 1956 wurde die Familie nach Hamburg "ausgeschleust". Seine Mutter unterrichtete bis 1957 im Lager. "Viele der Flüchtlinge gingen von hier aus nach Nordrhein-Westfalen, weil es dort Arbeitsplätze gab", sagt Boehart.

Als Polen die Aussiedlertransporte 1959 stoppte, ließ der Flüchtlingsstrom nach, und das Lager wurde wieder eine Unterkunft für Soldaten. Ab 1960 zog die Bundeswehr ein, die Unterkünfte wurden wieder Kasernen.

1976, mit 74 Jahren, starb Anna-Luise Tolle. Ihr Sohn Fritz behielt "sein" Klassenbuch, das sie mit einigen anderen sorgsam aufbewahrt hatte. Er gab es jetzt der Bauamtsleiterin von Barsbüttel, die es an Walczok weiterreichte. So fand es zurück nach Wentorf.