Von Christoph Brix

Geesthacht.
Der Gebetsraum der Moschee an der Berliner Straße war einfach zu klein: Im Innenhof nahmen gestern Verwandte, Freunde und Hunderte Mitglieder der türkischen Gemeinde Abschied von Ercan B. Der Familienvater hatte sich am Sonntag in seiner Wohnung an der Rathausstraße umgebracht (wir berichteten). Seine 18-jährige Tochter Ece B. war Anfang Juni zusammen ihrer Billstedter Freundin Merve S. (17) nach Istanbul ausgereist, um sich von dort aus der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) in Syrien anzuschließen.

Nach einem Abschiedsgebet unter der Leitung von Cahit Kücüskyildiz, Attaché der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) für Norddeutschland, wurde der Leichnam des 50-Jährigen nach Istanbul ausgeflogen, wo er im Kreis der Familie beerdigt werden soll.

Ercan B. hatte offenbar die Hoffnung aufgegeben, seine Tochter je wiedersehen zu können. "Kurz vorher hat er auf Merves Handy angerufen", berichtet sein Cousin Sedat Kirac unserer Zeitung. Eine unbekannte Männerstimme habe den Anruf entgegengenommen und gefordert, man solle "seine Frau in Ruhe lassen". Die Terrormiliz wirbt zurzeit in sozialen Netzwerken gezielt junge Frauen an. Nicht für den Kampf, sondern als Ehefrauen für die IS-Kämpfer.

Mittlerweile bestätigt auch das zuständige Landeskriminalamt in Kiel, dass die beiden Teenager die Türkei in Richtung Syrien verlassen haben. "Die Mädchen sind zunächst vom Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel nach Istanbul geflogen, von dort ging es auf dem Landweg weiter an die syrische Grenze", so Pressesprecher Stefan Jung. Die Tickets wurden am Flughafen gekauft und bar bezahlt. Die 17-jährige Merve S. legte dafür offenbar eine gefälschte Vollmacht vor.

Bei der Abschiedsfeier in der Moschee schwankten die Gefühle der Trauernden zwischen Sorge um Ece, Unverständnis für ihre Flucht und Wut über die vermutete Untätigkeit der Polizei.

"Ich habe sie zuletzt zusammen mit einer weiteren Freundin beim Jahrmarkt getroffen", erinnert sich Yarin Sahin (17). Dabei hätten sie über die Schule und andere Dinge gesprochen. Über Religion oder gar Details zur Ausreise sei kein Wort gefallen. Nur zwei Tage später saß Ece im Flieger in die Türkei.

Auch andere Schulkameraden, die namentlich nicht genannt werden möchten, konnten keine Anzeichen für eine Radikalisierung erkennen: "Sie erschien einem eher als ein Mädchen, denn als eine junge Frau", so ein Mitschüler von der VHS-Geesthacht, wo Ece ihren Schulabschluss machen sollte. Allerdings habe sich die junge Frau in den letzten zwei Jahren immer mehr von ihrem Freundeskreis zurückgezogen. "Sie war dann mehr in Billstedt unterwegs", sagt Yarin Sahin. Die 18-Jährige wurde zusammen mit ihrer Freundin Merve häufiger in der Moschee an der Billstedter Hauptstraße gesehen. Ebenfalls vor zwei Jahren entschied sich Ece, anders als ihre Mutter und ihre ältere Schwester, ein Kopftuch zu tragen.

"Warum tun die Behörden, die Polizei oder andere Institutionen nicht mehr gegen die Extremisten?", fragt der Schwager des Verstorbenen. Auch er möchte nicht mit Namen genannt werden. "Es sind nicht nur türkische Jungs und Mädchen in Gefahr. Alle Kinder sind gefährdet."

Laut Verfassungsschutz sind mittlerweile 680 Islamisten aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak ausgereist, 85 davon sollen dort gestorben sein. Mehr als zwölf Prozent seien Konvertiten, hauptsächlich junge Männer.

"Der Ausreisestrom in die Kampfgebiete hält unvermindert an. Die brutale IS-Propaganda verfängt weiter. Hiergegen hilft nur die Aufklärung über die grausame Wirklichkeit. Der IS muss endlich entzaubert werden. Die gesamte Gesellschaft ist hier gefordert", erklärt Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen.

In der türkischen Gemeinde Geesthacht hat man eine klare Meinung zu den Terrormilizen: "Diese Menschen sind aufgrund ihrer Taten und ihrer Einstellung für uns keine Muslime", sagt Imam Mustafa Cakmak. Der IS sei eine globale Gefahr für alle Menschen.