Hamburg.
Bis zu 30 000 ausländische Kämpfer haben sich der Terrormiliz Islamischer Staat angeschlossen und kämpfen in Syrien oder im Irak. Auch Ece B. und Merve S. wollen sich der Organisation offenbar anschließen - dafür sprechen Unterlagen, die die Polizei im Zimmer von Ece B. entdeckt hat. Über die Ursachen für die Anziehungskraft des Dschihad auf bestimmte Jugendliche und die Realität in Syrien sprach Redakteur Kai Gerullis mit Professor Michael Brzoska, dem Wissenschaftlichen Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Was versprechen sich junge Leute davon, sich dem Islamischen Staat anzuschließen und in den Dschihad zu ziehen?

Brzoska: Bei vielen herrscht eindeutig das Gefühl vor, einen Beitrag zur Schaffung einer besseren Welt zu leisten. Davon sind sie überzeugt. Sie träumen von einer Welt, in der der Islam geachtet wird und wo alle Menschen glücklich sein können. Beim IS fühlen sie sich als Teil eines großen Ganzen. Dass die Realität aber ganz anders aussieht, merken die jungen Leute erst, wenn sie in Syrien ankommen sind.

Was erwartet die jungen Menschen denn tatsächlich bei der Terrormiliz in Syrien?

Der Alltag in den vom IS besetzten Gebieten ist wenig erfreulich. Frauen werden vor Ort oft umgehend zwangsverheiratet oder in Familien gesteckt, wo sie den ganzen Tag häusliche Arbeit leisten müssen und nur noch wenig selbst bestimmen dürfen - etwas anderes sieht der salafistische Islam nicht vor. Die Männer werden je nach Qualifikation eingesetzt. Verfügen sie über technisches Wissen oder Erfahrung in der Büroarbeit, kommen sie in der Logistik der Organisation unter. Viele andere erhalten eine Kurzausbildung im militärischen Kampf - und werden schnell zu besonders riskanten Unternehmungen losgeschickt, bis hin zu Selbstmordattentaten. Gerade die Kämpfer aus den westlichen Ländern gelten schlicht als Kanonenfutter.

Worin liegt die Anziehungskraft des Islamischen Staats insbesondere auf junge Leute, die in Deutschland gut integriert und wenig religiös verankert sind?

Wir gehen davon aus, dass der IS derzeit über 20 000 bis 30 000 ausländische Kämpfer verfügt. Die Gründe, warum sie sich anschließen, sind entsprechend vielfältig. Natürlich spielt für viele die Abenteuerlust eine große Rolle, denn die Organisation ist sehr präsent in den Medien. Die Propaganda hat eine große Sogwirkung, denn neben Gewaltvideos kursieren ja auch viele Filme, wie ein erfüllter Alltag im islamischen Staat aussehen soll. Ein großer Teil der Kämpfer ist aber auch angehaucht von der Idee, dass Muslime in Deutschland schlecht behandelt werden und sie ein Zeichen setzen müssen. Doch mitunter steckt auch eine Flucht hinter der Zuwendung - so führen auch Streit in der Familie oder eine Auflehnung gegen das Elterhaus immer wieder in die Radikalisierung.

Offenbar spricht der IS derzeit verstärkt junge Mädchen an, wie auch das Beispiel der beiden Mädchen aus Geesthacht und Billstedt zeigt?

Dahinter steckt die Ideologie des IS: Die Organisation will, wie ihr Name sagt, einen richtigen Staat aufbauen. Das funktioniert aber nicht, weil sie in ihren Reihen einen deutlichen Frauenunterschuss hat und auch in den besetzten Gebieten insgesamt Frauen fehlen. Der Mangel führt dazu, dass nicht jeder Kämpfer eine Frau an seiner Seite hat. Dieser Anspruch soll jetzt über die verstärkte Anwerbung erfüllt werden.

Haben die Frauen vor diesem Hintergrund überhaupt eine Möglichkeit zurückzukehren, wenn sie sich einmal der Terrormiliz angeschlossen haben?

Die Chance, dass Frauen vom IS aus Syrien zurückkommen, ist gering - auch wenn immer wieder einigen die Flucht gelingt. Da Frauen im salafistischen Islam ohnehin nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten haben, am Alltagsleben teilzunehmen, können sie allein keine Transportmittel nutzen. Sie sind immer auf Männer angewiesen, die sie irgendwie in Richtung der türkischen Grenze bringen. Die Männer riskieren häufig ihr Leben.

Was ist das größte Risiko dieser zunehmenden Radikalisierung von bestimmten Jugendlichen in West-Europa?

Ich sehe die größte Gefahr im wachsenden Klima des Misstrauens gegenüber den Anhängern des Islams. Eine weitere Gefahr sind die Männer, die aus dem Kampf zurückkehren. Dieses Risiko darf man aber nicht überschätzen: Es ist zwar nicht auszuschließen, dass die Rückkehrer zu Anschlägen verleitet werden. Die meisten von ihnen sind aber von den Erlebnissen aus Syrien in höchstem Maße desillusioniert.