Kalligraphie

Warum eine Frau jahrelang das Neue Testament abschrieb

| Lesedauer: 4 Minuten
Carolin George
Antje Müller hat ihr Hobby zur Passion gemacht und das gesamte Neue Testament kalligraphiert. Zu sehen ist das Werk bis zum 26. August 2023 in der St. Nicolaikirche Lüneburg.

Antje Müller hat ihr Hobby zur Passion gemacht und das gesamte Neue Testament kalligraphiert. Zu sehen ist das Werk bis zum 26. August 2023 in der St. Nicolaikirche Lüneburg.

Foto: Carolin George

Antje Müller hatte 2016 einen Geistesblitz. Das eindrucksvolle Ergebnis ist bis 26. August in der Lüneburger St. Nicolaikirche zu sehen.

Lüneburg.  Am Anfang war das Wort. Und dieses Wort ist jetzt auf so künstlerische Weise zu lesen, wie es bislang wohl selten der Fall gewesen ist: In der St. Nicolaikirche Lüneburg hängen, liegen und stehen zurzeit die rund 140.000 Wörter des Neuen Testaments – jeder einzelne Buchstabe kalligraphisch abgeschrieben. Gefaltet zu Leporellos, gebunden in Büchern, festgehalten auf Bannern und wie gemalt auf Leinwänden.

Das Irre dabei: Dies ist kein Gemeinschaftswerk. Es ist eine einzige Frau, die das gesamte Neue Testament kalligraphiert hat.

Künstlerin über ihr Werk: „Es ist für mich ein großes Wunder“

Sie heißt Antje Müller, lebt in Bremen und sagt über ihr eigenes Werk: „Es ist für mich ein großes Wunder.“ Ein großes Wunder, dass sie ihren Geistesblitz, in anderen Zusammenhängen würde man es wohl eine Schnapsidee nennen, aus dem Jahr 2016 tatsächlich in die Tat umgesetzt hat.

Es war eben dieses Jahr 2016, als Antje Müller eine Arbeit für zwei norddeutsche Kirchen beendet hatte: vier jeweils sechs Meter hohe Banner, beidseitig beschrieben mit den vier Soli der Reformation. „Nach 180 Arbeitsstunden saß ich da, war erleichtert und dachte gleichzeitig: wie schade“, erinnert sich die heute 54-Jährige. Wie schade, dass sie fertig ist mit dieser immensen Arbeit.

„Wenn ich fünf Verse pro Tag abschreibe, brauche ich 17 Jahre“

Und dann war er da, der Gedanke, der Geistesblitz, die Schnapsidee: Wie wäre es, die gesamte Bibel abzuschreiben? „Ich habe recherchiert und gerechnet, gerechnet und recherchiert. Und es passte. Wenn ich fünf Verse pro Tag abschreibe, brauche ich 17 Jahre. Das schaffe ich“, erzählt sie. „Ich hatte meinen Arbeitsauftrag von Gott in der Tasche.“

Zwei Wochen später begann Antje Müller zu schreiben – und viereinhalb Jahre später war sie mit dem Neuen Testament fertig. Das erste Mal öffentlich gezeigt hat sie ihr Werk 2021 in der Stadtkirche Wittenberg. Konzipiert ist es als Wanderausstellung. Wer es zeigen möchte, kann sich bei ihr melden. „Alles, was es braucht, ist ein großer Raum.“

„Ich habe Trost erlebt und Kraft und Freude. Manchmal auch Rüffel und Dämpfer“

Im richtigen Leben Mathelehrerin, suche sie in der Kalligraphie ihre Auszeiten, um zu Ruhe und Stille zu kommen. „Beim Abschreiben bekomme ich Kraft.“ Zur ehrlichen Erzählung gehört aber auch, dass sie während der Jahre, die sie mit dem Neuen Testament verbrachte, viele Tiefpunkte durchlebt habe. Gleichzeitig erfuhr sie an sich selbst: „Gottes Wort hat für jeden etwas. Ich habe Trost erlebt und Kraft und Freude, und manchmal einen Rüffel, einen Dämpfer.“

Für jedes Buch, jedes Evangelium wählte Müller eine andere historische Schriftart. Herz der Ausstellung sind zwölf gebundene Bücher und zwölf Leporellos. Die Bücher ruhen in Handschuh-Schatullen aus der Zeit zwischen 1850 und 1920 – einige Sätze stehen sogar auf den Handschuhen selbst.

Man muss auch blauäugig sein, um ein Mega-Projekt zu beginnen

Ihr Plan, brav fünf Verse pro Tag abzuschreiben, ging zwar nicht auf. „Meine Rechnung war natürlich total blauäugig“, gibt sie offen zu und lacht. So habe sie nicht mit der Lebenskrise gerechnet, die sie etwa ein Jahr nach Beginn des Schreibens erlebte, habe Krankheiten und Urlaubszeiten nicht eingerechnet.

„Aber ich denke, man muss auch mal blauäugig sein. Wie sagt es Christus: Seid wie die Kinder.“ Sonst hätte sie vielleicht, vermutlich sogar, gar nicht erst angefangen mit ihrem Mega-Projekt.

Mit dem Neuen Testament hat Antje Müller ihre Arbeit nicht beendet

Apropos anfangen: Mit dem Neuen Testament hat Antje Müller ihre Arbeit nicht beendet. Sie hat noch nicht einmal eine Pause gemacht. Sie hat gleich wieder angefangen – respektive: einfach weitergemacht. Mit dem Alten Testament.

Die Ausstellung: Zu sehen ist das kalligraphierte Neue Testament noch etwa vier Wochen bis Sonnabend, 26. August, in der Lüneburger St. Nicolaikirche. Öffnungszeiten sind montags bis freitags von 11 bis 17 Uhr sowie sonnabends von 11 bis 14 Uhr und sonntags nach dem Gottesdienst. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen gibt es im Internet unter www.kalligrafie-mueller.de