Forschung Lünburg

„Ich muss vertrauen, sonst geht gar nichts“

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Carolin George
Professor Philipp Sandermann und Soziologin Vanessa Schwenker forschen zum Thema „Vertrauen“.

Professor Philipp Sandermann und Soziologin Vanessa Schwenker forschen zum Thema „Vertrauen“.

Foto: Carolin George / HA

Professor Philipp Sandermann und Soziologin Vanessa Schwenker forschen zum Thema „Vertrauen“. Sie haben eine Podcast-Reihe zum Thema gestartet

Lüneburg.  Beim Cafébesuch fängt es an. Setze ich darauf, dass der Mensch an der Kaffeemaschine mir kein Gift in den Becher mischt? Dass die Milch nicht sauer ist? Dass mir schmeckt, was ich bestelle? Für all das gibt es keine Garantie. Wir müssen darauf vertrauen. „Es gibt keine Alternative“, sagt Philipp Sandermann. Er muss es wissen. Der Professor für Sozialpädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg forscht seit gut vier Jahren intensiv zum Thema Vertrauen. Gemeinsam mit einer Kollegin veranstaltet er gerade eine Podcast-Reihe mit Gästen aus Wissenschaft und Praxis, die noch bis Februar läuft.

Auf die Idee gekommen sind Sandermann und seine Kollegin Vanessa Schwenker, weil sie eine Brücke schlagen wollen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. „Vertrauen ist im Alltag moderner Gesellschaften sehr relevant, wird in der öffentlichen Debatte aber oft mystifiziert“, sagt Philipp Sandermann.

Ohne Vertrauen kann ich morgens nicht aus dem Bett aufstehen

„Die Wissenschaft hat in den vergangenen 30 Jahren viel zum Thema geforscht.“ Doch zwischen Alltagsdebatten und wissenschaftlichem Diskurs fehlt die Verbindung. Hier soll der universitäre Podcast Abhilfe schaffen. „Trust Issues?! Vertrauen als Grundlage gesellschaftlicher Zukunft“, heißt die Reihe.

Denn ohne Vertrauen geht streng genommen gar nichts. „Ich muss vertrauen, um handlungsfähig zu sein“, sagt Philipp Sandermann (45). „Überspitzt gesagt: Ohne Vertrauen kann ich morgens nicht aus dem Bett aufstehen.“ Oft laufe das Vertrauen ganz unbewusst im Alltag mit. „Erst wenn es heikel oder unsicher wird, merken wir, dass es um Vertrauen geht.“ Denn Vertrauen impliziert die Bereitschaft, gegenüber einer Person oder Gruppe ein Risiko einzugehen – ohne zu wissen, was folgt. „Man macht sich verwundbar und man wird möglicherweise verwundet.“ Eine bestimmte Anzahl von Vertrauensbrüchen werde dabei akzeptiert.

Akzeptierte Verletzlichkeit und in Kauf genommenes Risiko

„Vertrauen ist akzeptierte Verletzlichkeit und in Kauf genommenes Risiko“, sagt Soziologin Vanessa Schwenker (30). Ohne Vertrauen gäbe es weniger Kooperationen und weniger Komplexität. Man könnte nur tun, was man selbst bewerkstelligen kann: das Geld unters Kopfkissen stecken, keine Beziehung eingehen, Kinder nicht in die Schule schicken.

„Wir wären eine Sicherheitsgesellschaft, die auf Kontrolle und Verträgen basiert“, macht Schwenker deutlich. In Ländervergleichen zeige sich: Je freier eine Gesellschaft ist, desto mehr Vertrauen setzt sie voraus. Ob eine Regierung mir gegenüber generell wohlwollend handelt, ist dabei auch eine Vertrauensfrage.

Versuch, mit ungewissen Situationen umgehen zu können

So ist Vertrauen nicht nur etwas, das Personen angeht. Sondern auch ganz grundsätzlich Institutionen, die Gesellschaft, das politische System, die Wirtschaft, die Industrie. Die Wissenschaft. Es ist der Versuch, mit ungewissen Situationen umgehen zu können.

„Vertrauen ist der Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“, sagt Schwenker. Es kann emotional sein, aber auch sehr rational – zum Beispiel, wenn ich etwas über eine Person gelernt habe. „Generell vertraue ich jemandem eher, wenn ich mich von der anderen Person anerkannt, adressiert, bedacht, kurz: gesehen fühle“, erklärt Schwenker.

Verhältnis der Gesellschaft zur Wissenschaft hat sich durch Corona geändert

Und das kann dazu führen, dass jemand eher Attila Hildmann vertraue als Christian Drosten – auch wenn der Wissenschaftler die besseren Argumente hat als der Verschwörungsideologe. Während der Pandemie habe sich das Verhältnis der Gesellschaft zur Wissenschaft geändert. Dachten viele vorher, die Wissenschaft produziere eine Wahrheit, die unabhängig von Perspektiven ist und aus der sich ganz direkt Handlungsempfehlungen ableiten lassen, hat sich diese Annahme als etwas erwiesen, das wohl mehr Hoffnung war als Realität.

Anders gesagt: als zu naiv. „Auch die Wissenschaft besteht aus Debatten und Kontroversen“, sagt Schwenker. „Das war vielen vorher nicht bewusst.“

Doch selbst wo Konsens über Wahrheit besteht, macht das die Situation nicht unbedingt einfacher. Denn: „Wahrheitsfragen sind keine Entscheidungsfragen“, macht Sandermann klar.

Es gibt Fakten. Aber wir handeln nicht automatisch nach ihnen

„Natürlich gibt es Fakten. Aber die sagen uns nicht, was wir tun sollen.“ Anders ausgedrückt: Es gibt Fakten. Aber wir handeln nicht automatisch nach ihnen. Weil Fakten eben nicht in die Zukunft weisen.

Wer denkt, die eigenen Entscheidungen ausschließlich anhand von Wissen treffen zu können anstelle von Vertrauen, irrt. „Es funktioniert nicht zu sagen: Entweder ich weiß oder ich vertraue“, sagt der Sozialpädagoge. „Auch wenn ich viel weiß, muss ich stets auch vertrauen.

Denn Wissen und Wahrheit beziehen sich auf Vergangenheit und Gegenwart. Vertrauen richtet sich an die Zukunft. Wie eine Investition – in der Hoffnung, dass sie sich auszahlt.“

Doch mitunter, macht der Forscher klar, ist es natürlich auch besser, eben nicht zu vertrauen. Am Ende also bleibt, neben ein wenig Wissen und vielen Fakten, ein weiterer wichtiger Begleiter im Leben: das Bauchgefühl.

Nächster Termin der Podcast-Reihe „Trust Issues?! Vertrauen als Grundlage gesellschaftlicher Zukunft“ ist Dienstag, 17. Januar. Unter dem Titel „Advertise my trust“ ist Vertrauen und Konsum das Thema des Abends.

Die Sendung läuft live zwischen 18 und 20 Uhr auf Deutsch. Im Anschluss an Input und Dialog der Gäste ist ein Austausch mit dem Live-Publikum möglich.

Die Zugangsdaten finden sich auf www.leuphana.de unter der Rubrik Termine des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik.

Bereits gesendete Folgen der Reihe sind in Kürze auch nachzuhören im Leuphana-Kanal bei Diensten wie Spotify, Apple Music, amazon Music und Deezer.