Kiel

Wahlbriefe: „Gut gemeint – schlecht gemacht“

| Lesedauer: 5 Minuten
Marc HasseCornelia Werner

Amtliche Benachrichtigung mit zahlreichen falschen Bindestrichen, um alle Wähler zu erreichen. Doch viele Schleswig-Holsteiner sind verwirrt

Kiel. Das konnte doch wohl nur ein Aprilscherz sein – oder etwa nicht? Etliche Menschen in Schleswig-Holstein stutzten, als sie dieser Tage Post von ihren örtlichen Wahlämtern erhielten. Wie dem Briefkopf zu entnehmen ist, handelt es sich um die „Wahl-Benachrichtigung“ für die Wahl zum „Land-Tag“ von Schleswig-Holstein am 7. Mai. In diesem Stil geht es weiter: 38 Wörter in dem zweiseitigen Anschreiben enthalten Bindestriche: vom „Wahl-Tag“ und „Wahl-Kreis“ über „Personal-Ausweis“, „Vor-Name“, „Geburts-Datum“, „Haus-Nummer“ und „Post-Leit-Zahl“ bis zu freundlichen Grüßen von der „Gemeinde-Wahl-Behörde“.

„Habe ich etwas von der Rechtschreibreform verpasst, oder ist die Verwaltung einem Freak des Bindestrichs auf den Leim gegangen?“, schrieb ein Abendblatt-Leser. In einer anderen Zuschrift hieß es: „Es scheint überhaupt nicht mehr auf eine richtige Schreibweise (Schreib-Weise?) anzukommen. Ich halte das für unverzeihliche Fehler der Landeswahlleitung in Kiel.“

Ein Aprilscherz sei das keineswegs, sagt Claus-Peter Steinweg, Leiter der Geschäftsstelle von Landeswahlleiter Tilo von Riegen. Vielmehr handele man im Auftrag des Landtags von Schleswig-Holstein. Dieser hatte 2015 eine Resolution beschlossen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Zu dem Konzept mit dem Titel „Demokratie lebt auch von Wahlbeteiligung“ gehört Steinweg zufolge die Vorgabe, die wichtigsten Wahlbenachrichtigungen in der „Leichten Sprache“ zu formulieren. Diese soll in erster Linie Menschen mit Lernbehinderung oder Leseschwierigkeiten das Verständnis von Texten erleichtern.

Einfache Sätze sollen Missverständnisse verhindern

Für die Formulierung des Schreibens, das etwa 2,3 Millionen Wahlberechtigte in Schleswig-Holstein erhalten, habe man sich „Hilfe von Experten“ geholt, sagt Steinweg. So wurde eine Hamburger Textagentur beauftragt. Diese lieferte einen Vorschlag, der allerdings „stark überarbeitet“ worden sei, sagt Steinweg. „Dabei ging es uns darum, eine rechtlich einwandfreie Wahl zu gewährleisten.“ Dem Wähler sollten alle nötigen Informationen zur Wahl derart vermittelt werden, „dass klar ist, was gemeint ist“.

Wortzusammensetzungen (Komposita) werden im Allgemeinen zusammengeschrieben. Wenn es der Verständlichkeit dient, sind jedoch Bindestriche zur Koppelung erlaubt. Hat es die Geschäftsstelle des Landeswahlleiters in Kiel damit übertrieben?

Nein, sagt Helmut Siegmon, Vorsitzender des Philologenverbandes Schleswig-Holstein. Er hält es für sinnvoll und notwendig, dass für die Wahlbenachrichtigung eine einfache, verständliche Sprache verwendet wird. Zu den Regeln dieser Sprache gehöre es auch, zusammengesetzte Wörter durch Bindestriche zu verbinden – wie „Land-Tag“. „Mit Sprache kann man auch einen Raum schaffen, den nicht jeder betreten kann“, sagt Siegmon. „Die einfache, verständliche Sprache sorgt dafür, dass jeder, der das Wahlrecht hat, sie eindeutig verstehen kann und dass keine Missverständnisse entstehen.“

Wolf Schneider, Autor zahlreicher Sprachratgeber und langjähriger Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg, hält das Konzept der „Leichten Sprache“ zwar grundsätzlich für vernünftig. Viele Texte ließen sich sinnvoll vereinfachen, um sie lesbarer zu machen. „Insbesondere Journalisten könnten öfter darüber nachdenken, ob ein Bindestrich nötig wäre“, sagt Schneider. Lange Wortzusammensetzungen wie „Selbsthilfeinitiative“ oder „Eliteuniversität“ nicht zu koppeln sei eine „Frechheit“. Dabei handele es sich um Wörter, „die zum falschen Lesen einladen“, weil in der Mitte zwei Vokale aufeinanderfolgen, sodass der Leser etwa „Eliteun...“ statt Elite-Universität lesen könnte. Die Trennung in dem Wort „Wahl-Benachrichtigung“ hält Schneider für einen Grenzfall.

Ein Hinweis auf die „Leichte Sprache“ fehlt

Bei Komposita hingegen, die aus nur zwei Silben bestehen, seien Bindestriche „der schiere Quatsch“. „Wahl-Schein“ und „Brief-Wahl“ zu schreiben sei keine Leseerleichterung. „Da wird ein vollkommen normales Wort auf eine Weise geschrieben, die noch niemand gesehen hat“, sagt Schneider. Richtig in Rage bringen ihn die Trennungen bei den Wörtern „Wahl-Schein-Antrag“ und „Gemeinde-Wahl-Behörde“. „Ein Wort durch zwei Bindestriche zu zerreißen ist der Gipfel der Dummheit.“

Wenig Anklang findet die „Wahl-Benachrichtigung“ auch bei Bastian Sick, Autor der Buchreihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“. An dem Konzept der „Leichten Sprache“ ein Schreiben an alle Wahlberechtigten auszurichten, „dürfte eher für Verunsicherung als für mehr Verständnis sorgen“, sagt Sick. „Viele Menschen denken womöglich, das sei die amtliche offizielle Schreibweise – und wundern sich.“

Anders verhielte es sich, wenn in dem Schreiben darauf hingewiesen worden wäre, dass es bewusst in einer leichten Sprache formuliert wurde, um auch Menschen mit Beeinträchtigungen zu erreichen. „Das Ganze war von der Politik gut gemeint, ist aber schlecht umgesetzt worden“, sagt Sick. Er empfindet sämtliche Bindestriche in dem Anschreiben als „sehr störend, weil sie alle den standardgemäßen Lesegewohnheiten zuwiderlaufen“. In der Geschäftsstelle des Landeswahlleiters sei man nicht ganz glücklich mit dem Ergebnis, ist zu hören. Deren Leiter Claus-Peter Steinweg sagt nur: „Ich kann verstehen, wenn die Benachrichtigung für den einen oder anderen ungewohnt ist.“

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