In Lüneburg ersticht ein Mann zwei Frauen, zwei Mütter. Drei ihrer Kinder besuchten dieselbe Schule. Wie die Lehrer nach der Bluttat um einen normalen Unterrichtsalltag ringen

Am Sonntag, dem 4. Januar 2015, tötet ein Mann zwei Frauen. Die eine ist seine Ehefrau, die andere eine Freundin seiner Frau, die gerade zu Besuch ist, Kaffeetrinken. Das Paar gerät in Streit. Der Mann ersticht die Frauen. Eine Beziehungstat, sagt die Polizei. Tatort: eine Wohnung in Lüneburg, 50 Kilometer südöstlich von Hamburg.

Dies ist keine Geschichte über das Warum. Dies ist eine Geschichte über das Danach. Darüber, wie es weitergeht, wenn zwei Menschen von einem anderen mit Gewalt aus dem Leben gerissen werden, aus einem sozialen Umfeld. Darüber, was ein Verbrechen mit denen macht, die übrig bleiben.

Auf dem Pult von Anna* steht am Dienstag nach der Tat eine Kerze. Daneben liegen Bilder und Briefe, gemalt und geschrieben von ihren Klassenkameraden. Anna sitzt an diesem Morgen nicht an ihrem Platz in ihrer Klasse. Es ist der erste Schultag nach den Winterferien. Und nichts ist wie am letzten Schultag vor Weihnachten. Denn jetzt ist Annas Mutter tot.

Daniela Tiesing-Neben, 51, hatte einen Tag Zeit. Zeit, sich zu überlegen, wie sie und ihr Kollegium damit umgehen sollen, dass zwei Mütter von Kindern ihrer Schule umgebracht worden sind. Dass drei Kinder der Schule keine Mutter mehr haben. Weil der Vater von zweien sie erstochen hat. Neben dem Eingang zum Büro der Schulleiterin hängen gerahmte Kinderbilder. „Glück ist weich, Glück ist gelb, Glück schmeckt nach Melone“, steht darauf. Die Grundschulkinder sollten beschreiben, was Glück für sie ist. Die Schilder daneben sind in drei Sprachen übersetzt: Englisch, Russisch und Türkisch. Damit hier jeder versteht, wo das Lehrerzimmer liegt und wo die Rektorin zu erreichen ist.

Daniela Tiesing-Neben leitet die Grundschule in dem Stadtteil, in dem der Mord geschah, die Anne Frank Grundschule in Kaltenmoor. Als sie am Montag im Radio von dem Doppelmord in Kaltenmoor hört, denkt sie: „Was machen wir mit unseren 350 Kindern?“ Dann telefoniert sie mit dem Kriseninterventionsteam für Kinder und Jugendliche in Lüneburg, der Landesschulbehörde, der Polizei. Formuliert einen Rundbrief an die Eltern, einen Schriftsatz für die Lehrer. Spricht mit Müttern, Kollegen, Schülern. Beruhigt, tröstet, erklärt. Erklärt, tröstet, beruhigt. Und läuft zwei Stunden durch den Wald.

„Ihr alle werdet inzwischen von dem Doppelmord gehört haben, der am Sonntag, dem 4. Januar, in Kaltenmoor passiert ist. An diesem Tag hat ein Mann seine eigene Frau und ihre Freundin bei einem Streit erstochen. Beide Frauen waren Mütter von Kindern an unserer Schule. Gott sei Dank waren die Kinder bei diesem schrecklichen Ereignis nicht dabei und sind jetzt in Sicherheit“, steht in dem Text für alle Lehrer, den sie in ihren Klassen vorlesen und mit den Schülern besprechen. „Wir wissen nicht, warum dieser Vater das getan hat. Für manche Dinge gibt es keine Erklärung. Was wir wissen, ist, dass es nur ganz, ganz selten passiert, dass Menschen sich so sehr streiten, dass andere dabei getötet werden. Wenn etwas so ungewöhnlich Trauriges und Schlimmes passiert, wie jetzt bei uns in Kaltenmoor, dann geht jedes Kind und jeder Erwachsene anders damit um.“

Am zweiten Schultag nach den Ferien kommt Luisa* wieder. Sie ist die Tochter der ermordeten Freundin von Annas Mutter. Luisas Großmutter hatte am Abend zuvor mit dem Klassenlehrer gesprochen, um 7.30 Uhr steht das Mädchen vor der Tür. Gerade genug Zeit für den Pädagogen, Luisa zu fragen: Möchtest du darüber sprechen? Möchtest du, dass wir in der Klasse darüber sprechen? Sie möchte es nicht. Möchte, dass in der Klasse alles ganz normal abläuft. Ein bisschen Normalität im Wahnsinn der brutalst möglichen Realität.

„Die Kinder entscheiden, ob sie darüber reden wollen oder nicht“, sagt die Schulleiterin. „Ob sie lachen, weinen, toben oder malen wollen in so einer Situation. Wir arbeiten fast mantramäßig mit Ja- und Nein-Gefühlen, unsere Kinder kennen das.“ Und trotzdem: Der Umgang mit traumatisierten Kindern mag zwar am Rande des Lehramtsstudiums hier und da mal ein Thema gewesen sein. Die Unsicherheit ist dennoch da. „Für uns ist das eine unfassbare Ausnahmesituation. Eine Situation, in der die eigene pädagogische Ausbildung, Intuition, Herz und Menschenverstand allein nicht mehr ausreichen. Eine Ohnmacht.“

Noch am selben und auch am nächsten Tag kommen zwei Psychologen aus dem Krisen- und Notfallteam der Landesschulbehörde nach Lüneburg, die das Kollegium beraten, was jetzt normal ist, was wichtig ist und was unwichtig. „Das gab Sicherheit“, sagt Tiesing-Neben. Auch darin, dass es richtig ist, in solchen Situationen zu vergessen, Schulleiterin zu sein. Denn Unterricht wird nebensächlich. „Das Leben bestimmt dann auf einmal das Leben – und nicht der Lehrplan“, sagt die Pädagogin. „Man überlegt gemeinsam, was wirklich wichtig ist. Und das ist keine Klassenarbeit, keine Note, kein Zeugnis. Dann muss es möglich sein, den ganzen Laden einmal anzuhalten.“

„Diese Gespräche mit den Psychologen waren unglaublich wichtig für uns“, sagt Daniela Tiesing-Neben. „Wir wussten ja nicht einmal, ob wir unser Essen noch genießen dürfen, lachen dürfen. Überhaupt etwas tun dürfen, das uns guttut.“

Wäre Kaltenmoor ein Stadtteil von Hamburg, würde die Schule zu den sogenannten Brennpunktschulen zählen. Dürfte kleinere Klassen haben, eine bessere Personalausstattung. Kaltenmoor gehört aber nicht zu Hamburg, und in Niedersachsen gibt es eine Berücksichtigung in dieser Form nicht. Obwohl Kaltenmoor das dringend brauchen würde. So sitzen hier genau wie anderswo 26 Kinder in einer Klasse – theoretisch aus 26 Ländern. Aus so vielen Nationen kommen die Menschen im Stadtteil. „Brennpunkt“ ist für Daniela Tiesing-Neben nichts, was von vornherein negativ ist. Sondern eine Beschreibung dessen, was ist. Die Pädagogin liebt ihre Schule, ihre Schüler, die unprätentiöse Art der Eltern. Lieber deftig und direkt als elitär und eitel.

Und doch ist da eine Wut in der kleinen, sportlichen Frau. Eine Wut darüber, dass sie Hilfen wie die Schulpsychologen erst jetzt bekommen hat. „Warum muss erst so etwas Furchtbares passieren? Das fragen sich viele im Kollegium.“ Hätte das Kollegium eine grundsätzliche Beratung durch Psychologen gewünscht, bevor drei ihrer Schüler ihre Mütter durch Mord verloren haben, hätten sie den Rat der Experten teuer aus dem Fortbildungsbudget der Schule einkaufen müssen, sagt Tiesing-Neben. „Es geht um die grundsätzliche Frage nach dem Umgang mit Krisen und Gewalt, wie er für einen Teil unserer Schülerinnen und Schüler leider zum Alltag gehört.“

Es ist nicht das erste Verbrechen, das erste Trauma, mit dem die Kinder der Schule in Kontakt kommen: Im Frühjahr 2014 war ein 34-Jähriger im Stadtteil umgebracht und in einem Einkaufswagen verbrannt worden; das Opfer war ein Onkel eines Schulkindes. Als vor zwei Jahren ein Mann seine Ex-Frau vor den Augen seiner Tochter niedersticht, besucht das Mädchen danach als Gastkind die Schule. Und als sich vor einem halben Jahr zwei verfeindete Familien vor dem Lüneburger Klinikum eine Schießerei liefern, sind das die Verwandten von Kindern an der Schule. Und die Mädchen und Jungen aus Syrien kommen mit Kriegserlebnissen in die Klassen.

Es ist nach 16 Uhr, die Schule ist aus, das Angebot der Ganztagsschule endet um 15.30 Uhr. Vor den Klassenzimmern stehen Regale mit kleinen Hausschuhen, an den Kleiderhaken hängen Regenhosen. Im Eingang liegen Pullis, T-Shirts und Turnbeutel auf Bänken ausgebreitet: Fundsachen. Im Raum 160 stehen blaue Plastikstühle auf den Pulten. An der Wand hängt die wichtigste Regel der Schule: „Stopp“ sagen, wenn jemand etwas tut, das man nicht will. Ein Strichmännchen hält seine Hand mit geradem Arm nach vorn und streckt die Finger geschlossen zur Decke. Neben die Tafel hat der Klassenlehrer Fotos aus früheren Jahrgängen gehängt. Von einem lächelt ein Mädchen mit langen, dunklen, gewellten Haaren in die Kamera. Es ist Annas große Schwester.

Die Mutter der beiden war jahrelang aktive Elternvertreterin, in den vergangenen Monaten hat sie als Dolmetscherin bei syrischen Flüchtlingsfamilien geholfen. Hat mal Wäsche gewaschen, mal gekocht. Sie hat geholfen, wo Hilfe nötig war. Und ihre Freundin war gerade zur Elternvertreterin der Klasse ihrer Tochter gewählt worden. Jetzt sind sie nicht mehr da.

Ein Lehrer macht sich Vorwürfe, weil er die Ehefrau des mutmaßlichen Mörders gut kannte. Hätte er etwas ahnen müssen? Hätte er helfen können? Die Tat verhindern? Natürlich nicht, weiß der Kopf. Das Herz fühlt etwas anderes. Und weint.

Ulrich Köhler ist 70 Jahre alt, hat fast 40 Jahre als Rechtsanwalt und Mediator gearbeitet und schlichtet jetzt Streit zwischen Kindern. Mehr noch: Köhler und sein Team, der „Seniorpartner in School“, kümmern sich in der Anne Frank Grundschule um die Sorgen und Nöte der Kinder in einer Weise, für die den Lehrern keine Zeit bleibt. „Streitereien sind häufig ein Ausdruck der Geschichte, die das Kind mitbringt“, sagt Köhler. „Und diese Geschichte ist oft sehr hart.“

Die Kinder der ermordeten Frauen kannte Köhler nicht persönlich. Und bislang hat auch noch kein anderes Kind mit ihm darüber sprechen wollen, dass drei ehemalige Mitschülerinnen auf einmal nicht mehr am Schreibtisch nebenan sitzen, mit ihnen auf dem Schulhof spielen. Denn Anna, Luisa und ihre Geschwister wohnen nicht mehr in Kaltenmoor. Sie leben bei Verwandten, besuchen andere Grundschulen außerhalb der Stadt.

Doch es wird noch etwas kommen, da ist sich Köhler sicher. „Und wir bereiten uns darauf vor.“ Die Senioren wollen mehr Einzelgespräche anbieten als bislang und Fortbildungen besuchen darüber, wie traumatisierte Kinder in Trauer oder seelischer Not noch besser unterstützt werden können. „Das war ohnehin geplant, bekommt durch diese Situation aber plötzlich seine besondere Dringlichkeit.“ Im „Raum der guten Lösungen“ der Seniorpartner können die Kinder so frei sprechen wie kaum an einem anderen Ort. Die Verabredung lautet: Nichts dringt nach außen, nicht zu den Lehrern, nicht zu den Eltern – es sei denn, die Kinder geben dazu ihre ausdrückliche Zustimmung. „Wir können Druck von ihnen nehmen, sie können sich öffnen und seelisch durchatmen. Ein bisschen wie bei Oma und Opa.“

Die Grundschule besuchen Kinder mit ganz unterschiedlichen Wertesystemen. „Die Kinder leben vielfach in zwei Welten: der Welt zu Hause und der Welt in der Schule“, sagt Köhler. „Unser Ziel ist, bei der schwierigen Wegfindung im Alltag zu helfen und ihr Selbstwertgefühl im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung zu stärken.“

Der mutmaßliche Täter sitzt in Untersuchungshaft. Drei Wochen war der Mann auf der Flucht, dann nehmen Spezialkräfte der Polizei aus Niedersachsen und Hamburg ihn in einer Wohnung in Hamburg-Osdorf fest. Der 31-Jährige wartet in der Lüneburger Justizvollzugsanstalt auf seinen Prozess. Spätestens dann wird es auch um sein Motiv gehen.

* Namen von der Redaktion geändert