Richter Jörg L. sagt über seine Motive: mal war es Mitleid, mal Anerkennung, mal sexuelles Interesse. Er habe dem „Gefühl, das Schicksal zu beeinflussen“, nicht widerstehen können.

Lüneburg. Er hat seinen Beruf geliebt. Mit Hingabe junge Leute auf ihrem Weg in den Beruf begleitet. Gesehen, wo der Schuh drückt im Ausbildungssystem deutscher Juristen. Geglaubt, er könne besser beurteilen, wer für den Job geeignet ist, als es Prüfungsergebnisse tun. Und sich herausgenommen, aus dieser Selbstgerechtheit das System zu betrügen. Am Dienstag hat der wegen Bestechlichkeit angeklagte Richter Jörg L. vor dem Landgericht Lüneburg überraschend ein umfassendes Geständnis abgelegt.

Auf Anraten seiner Anwälte habe er bislang geschwiegen, doch die Medienberichterstattung wolle er seiner Frau und seinem Vater nicht länger zumuten, beginnt der 48-Jährige seinen Vortrag, den er in der Untersuchungshaft sauber auf dem Computer getippt hat und zu dem er dem Gericht keine Nachfragen gestattet. Der angeklagte Richter beginnt mit großen Entschuldigungen. Bei den Referendaren, den Kollegen, dem gesamten Prüfungssystem der deutschen Justiz.

„Ich bin mir bewusst, wie groß der Schaden ist“, sagt der Mann, der als verantwortlicher Referatsleiter im Niedersächsischen Landesjustizprüfungsamt Inhalte und Lösungen des zweiten Staatsexamens an Prüflinge weitergegeben hat – in der Regel gegen Geld, in der Ausnahme kostenlos. Zum Beispiel, wenn er mit der betreffenden Referendarin Sex hatte.

Dann äußert sich Jörg L. zu jedem der angeklagten elf Fälle. Fälle sind hier Prüflinge, die beim ersten Versuch im zweiten juristischen Staatsexamen durchgefallen sind oder aber ihr Ergebnis in einem zweiten Durchgang verbessern wollten. Sagt bei dem einen, das sei ein „lieber Kerl“ gewesen, der ein „besseres Ergebnis verdient“ gehabt hätte, bei dem anderen, er halte ihn für einen guten Juristen.

Bei der Nächsten sei sein sexuelles Interesse so stark gewesen, dass er sie beeindrucken wollte, indem er ihr zum Prädikatsexamen verhilft. Bei der Übernächsten war aus Interesse eine heimliche Beziehung geworden, und weil sie es so schwer hatte, als Alleinerziehende fürs Examen zu lernen, hat er es ihr erleichtert. Andere taten ihm leid, weil sie als Migranten Schwierigkeiten mit der Sprache hatten, weil nahe Verwandte oder sie selbst lange krank gewesen sind.

Ehrgeiz, Angst und Verzweiflung auf der einen Seite, Mitleid, Zuneigung und Macht auf der anderen: Das muss zusammen keine Straftat ergeben. Hier aber hat sich ein Richter dafür entschieden, gegen das Gesetz zu verstoßen. Er hat den Referendaren nicht wie in seiner Zeit als Repetitor durch Motivation und Lernvorgaben geholfen, sondern er hat ihnen die Inhalte und Lösungsskizzen von Prüfungen verraten.

Besser gesagt: verkauft. 20.000 Euro für ein Paket, das habe er wohl als „Einstieg zu einer Verhandlung“ genannt, gibt Jörg L. zu. Als Einstieg zu einer Verhandlung darüber, wie viel ein erkauftes Juraexamen kostet. Längst nicht alle haben sein Angebot angenommen.

Er habe sich „zu etwas hinreißen lassen“, sagt Jörg L., er habe dem „Gefühl, das Schicksal zu beeinflussen“, nicht widerstehen können.

Als er merkte, dass sein Betrug trotz aller Drohungen den Referendaren gegenüber, sie wegen Verleumdung anzuzeigen, sollten sie ihn verraten, aufflog, sei er kopflos nach Italien gereist, habe sich dort das Leben nehmen wollen. Als die Polizei ihn in einem Mailänder Hotel festnahm, hatte er 30.000 Euro Bargeld und eine geladene Waffe bei sich. Allein war er im Süden auch nicht. Eine Prostituierte leistete ihm Gesellschaft.

Warum er sich aus dem Ansinnen, helfen zu wollen, für eine strafbare Hilfe entschied und mehrere Tausend Euro dafür verlangte, warum er denjenigen, denen er helfen wollte, drohte, warum er diejenigen, die bereits bestanden hatten, in die Gefahr brachte, bei einem Betrug entdeckt zu werden, der ihre Karriere zerstören wird: Das sind Fragen, die offen bleiben – trotz Geständnis. Für den Angeklagten selbst bedeutet es Strafmilderung, für alle Beteiligten eine drastische Verkürzung des ursprünglich auf mehr als 50 Verhandlungstage angesetzten Prozesses.

Einen ehemaligen Mitarbeiter des Referatsleiters hat das Gericht am Dienstag dennoch wie geplant befragt. Spätestens, als ein Prüfling nach einem sehr guten Aktenvortrag in der nächsten Prüfung versagte und eine Klausur trotz möglicher Freiräume in der Ausgestaltung exakt so aufgebaut war wie die Musterlösung, sei den Kollegen im Amt klar gewesen: „Da ist irgendetwas faul. Wir müssen ein Leck haben. Der Laden war kurz davor, in die Luft zu fliegen, weil jeder jeden verdächtigte.“

Jörg L. hat selbst aktiv an der Lösung des Problems mitgearbeitet: einem neuen Sicherheitskonzept des Prüfungsamts.