Mordserie in Krankenhäusern. Jetzt ermittelt eine Sonderkommission in Oldenburg gegen den 37-Jährigen

Oldenburg/Delmenhorst. Diese Mordermittlung sprengt jeden Rahmen: Die Staatsanwaltschaft Oldenburg und die eigens eingesetzte Sonderkommission (Soko) „Kardio“ haben ihre Arbeit noch einmal ausgeweitet und nehmen jetzt das gesamte berufliche Leben eines 37 Jahre alten Krankenpflegers unter die Lupe. Der Mann steht in Oldenburg wegen des Vorwurfs des dreifachen Mordes und zweifachen Mordversuchs auf der Intensivstation der Delmenhorster Klinik vor Gericht. Insgesamt geht es aber inzwischen um mehr als 200 mögliche Fälle in Oldenburg, Delmenhorst und vielleicht auch Wilhelmshaven.

Der Mann ist wegen eines Mordversuchs bereits im Jahr 2008 zu einer Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt worden. Im Gefängnis soll er dann geprahlt haben mit seinen Taten: Er habe bei 50 Toten aufgehört zu zählen. Aber erst, als die Tochter eines möglichen Todesopfers bei der Staatsanwaltschaft interveniert, gibt es neue Ermittlungen. Acht Leichen werden exhumiert, bei fünf wurde das Herzmittel Gilurytmal nachgewiesen, das unsachgemäß dosiert zum Herzstillstand führen kann.

Als besonders guter Intensivpfleger, der die Reanimation beherrschte wie kaum ein Arzt, hatte sich der Krankenpfleger viele Jahre im Klinikum in Szene gesetzt – in Delmenhorst wie zuvor in Oldenburg. In seiner Freizeit arbeitete er zusätzlich als Rettungssanitäter. Er war nicht beliebt, galt als aufbrausend, auch als Großmaul. Aber er war auch immer zur Stelle, wenn es um das Reanimieren ging. Aber niemand führte damals eine Statistik, und ein Hinweis der Oldenburger Apotheke, in Delmenhorst sei der Verbrauch des Medikaments Gilurytmal ungewöhnlich stark gestiegen, blieb folgenlos. Erst jetzt wurde auch klar, dass die Oldenburger Klinikleitung froh war, als der Krankenpfleger nach Delmenhorst wechselte. Er wurde erst intern versetzt, dann zur Kündigung gedrängt. Aber er erhielt ein Zeugnis ganz ohne jeden Hinweis auf Auffälligkeiten. „Sie haben das Problem abgeschoben“, sagte dazu Rechtsanwältin Gaby Lübben, die im laufenden Prozess Angehörige möglicher Opfer vertritt.

Ob sich der Krankenpfleger langweilte, ob er sich beweisen wollte – über seine Motive kann nur spekuliert werden. Er schweigt im Prozess vor dem Oldenburger Landgericht dazu. Klar ist: In Delmenhorst hat sich die Zahl der Toten auf der Intensivstation in seinen drei Jahren mehr als verdoppelt, wie ein inzwischen pensionierter Oberarzt akribisch nachgerechnet hat. Am Dienstag hat nun das Klinikum Oldenburg, wo er von 1999 bis 2002 tätig war, ebenfalls das Ergebnis eigener Recherchen vorgestellt. 56 Todesfälle wurden untersucht, und in zwölf Fällen gibt es mindestens Hinweise auf Fremdeinwirkung, sagte der Gutachter, Professor Georg von Knobelsdorff.

Zum Vergleich: Im ungleich kleineren Klinikum Delmenhorst untersucht die Soko „Kardio“ 174 Todesfälle. Und die in beiden Städten zuständige Staatsanwaltschaft Oldenburg machte ebenfalls am Dienstag klar, dass ihre Ermittlungen sich nicht auf die jetzt von den Klinikleitungen ermittelten und genannten Zahlen beschränken werden, sondern dass alle infrage kommenden Todesfälle noch einmal genau unter die Lupe genommen werden. Dies gilt ausdrücklich für „alle Fälle, in denen der Krankenpfleger zum Zeitpunkt des Todes oder unmittelbar zuvor Dienst hatte“. Dazu werden die Krankenakten angefordert und ein Gutachter eingeschaltet. Und keinen Zweifel lässt die Justiz auch, dass sie bereit ist, weitere Exhumierungen anzuordnen: „Sollte dies notwendig werden, wird die Polizeidirektion auf Wunsch der Angehörigen eine Begleitung und Betreuung in dieser Phase anbieten und zur Verfügung stellen.“

Es gibt über die Jahrzehnte immer wieder Fälle von Mord oder Totschlag in Krankenhäusern und Altenheimen, wie den des „Todespflegers“ von Sonthofen, der 2006 zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Er hatte nach Überzeugung des Gerichts 28 meist alte und schwer kranke Menschen getötet. In der Dimension vergleichbar ist sonst nur noch der Fall der hannoverschen Krebsärztin Dr. Mechthild Bach. Die wurde 2009 angeklagt wegen des Verdachts, acht Patienten mit einer Mischung von Valium und Morphium getötet zu haben. Die Ärztin nahm sich dann das Leben, und bis heute bleibt offen, wie lange sie so gehandelt haben könnte. Die acht angeklagten Fälle stammten alle aus einem Zeitraum von nur zwei Jahren, tätig war die Ärztin an der Klinik aber fast 20 Jahre. Ähnlich wie jetzt in Delmenhorst und Oldenburg gibt es also Hunderte von Hinterbliebenen, die mit der Ungewissheit über die Todesursache ihrer Angehörigen leben müssen.

Und die beiden Fälle haben noch eine Gemeinsamkeit: Die Ermittlungen gegen die Ärztin Bach basierten auf einem Zufallsfund besonders hoher Opiatverschreibungen. Eigentlich ging es nur um den Verdacht von Abrechnungsbetrug eines männlichen Kollegen. Im Fall des Krankenpflegers wird die Staatsanwaltschaft auch zu klären haben, wie er so lange an das verschreibungspflichtige Herzmedikament kommen konnte.