In Kiel gibt es für Studierende günstigen Wohnraum – Eine Stunde Arbeit für einen Quadratmeter

Kiel/Schwentinental. Sie haben einander gesucht und gefunden: Die 73-jährige Adele Reese aus Schwentinental bei Kiel und der 28-jährige Garmash Gennadiy aus Kasachstan. Was ein bisschen klingt wie der Anfang einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte, ist die geglückte Vermittlung einer Wohnpartnerschaft, organisiert vom Studentenwerk Schleswig-Holstein.

Seit September 2013 wohnt Garmash Gennadiy, der an der Kieler Fachhochschule Elektrotechnik studiert, bei Adele Reese. Sein Reich ist ein rund 30 Quadratmeter großes Zimmer mit eigenem Bad, kleiner Kochnische und separatem Hauseingang. Statt angemessener 200 bis 300 Euro Monatsmiete bezahlt der Student dafür nur die anfallenden Nebenkosten in Höhe von 50 Euro. Garmash Gennadiy muss keinen zeitintensiven Nebenjob suchen, der ihn über die Studienzeit bringt, er kann sich ganz auf das Lernen konzentrieren. Denn im Gegenzug zu dem fast geschenkten Wohnraum hilft der 28-Jährige seiner Vermieterin in Haushalt und Garten. „Ich mähe den Rasen, schneide Sträucher, mache den Abwasch und kleinere Reparaturen am Haus. Am liebsten gehe ich mit dem Hund spazieren“, sagt Garmash. Auch das zählt zu den Aufgaben, die er vor seinem Einzug gemeinsam mit Adele Reese genau festgelegt hat.

„Wie kannst du dir nur einen Fremden ins Haus holen?“, musste sich die Heilpraktikerin anfangs von Bekannten anhören, als sie sich Mitte vergangenen Jahres entschloss, am Projekt „Wohnen für Hilfe“ teilzunehmen. Adele Reese war zu diesem Zeitpunkt frisch verwitwet. Nach 40 Ehejahren war sie plötzlich allein in dem 200 Quadratmeter großen Haus, in dem sie so lange mit ihrem Mann glücklich war. Die gemeinsamen Kinder sind längst erwachsen, leben in München und in der Schweiz. „Sie kümmern sich rührend um mich“, sagt Adele Reese, „Aber sie haben ihr eigenes Leben, und das ist gut so.“ Eine Putzhilfe sorgt zwar einmal in der Woche für Ordnung – doch Haus, Garten, Hund und Katze fordern ständige Aufmerksamkeit. Zu viel für Adele Reese allein. Über einen Zeitungsartikel wurde die Seniorin auf das „Wohnen für Hilfe“-Angebot des Studentenwerks Schleswig-Holstein aufmerksam und setzte sich ohne zu Zögern mit Koordinatorin Alexandra Dreibach in Kontakt. Bei ihr können sich Studierende und Wohnraumanbieter melden und anhand eines ausführlichen Fragebogens ihre Wünsche und Angebote äußern. Dreibach sortiert die Bewerbungen, sucht Übereinstimmungen und vermittelt die Interessenten. Zuvor macht sie sich jedoch persönlich ein Bild von den angebotenen Räumen. Besenkammern und Bruchbuden kommen nicht infrage. Alexandra Dreibach: „Es sollen adäquate Zimmer sein. Sie müssen nicht möbliert, aber sauber sein sowie ein Bad oder Badmitbenutzung bieten. Außerdem sollte eine angemessene Privatsphäre gewährleistet sein.“

Die Mitarbeiterin des Studentenwerks Schleswig-Holstein war auch beim ersten Treffen von Adele Reese und Garmash Gennadiy dabei. Erst beim persönlichen Kennenlernen zeige sich, ob die Chemie zwischen beiden Parteien stimmt und eine Vermittlung zustande komme. „Ich war vor dem Treffen schon ein bisschen aufgeregt“, verrät Adele Reese. „Als es geklingelt hat, habe ich zum Fenster rausgeguckt. Das Erste, was mir an Garmash positiv auffiel, war seine Schiebermütze. So eine trug mein Mann auch immer.“

Das gute Gefühl verstärkte sich im Laufe des Gesprächs, und auch der Student brauchte nur die Zeit von zwei Tassen Tee, um sich für die besondere Kooperation zu entscheiden. Im Unterschied zu seiner Vermieterin hatte der 28-Jährige schon Erfahrung mit Wohngemeinschaften dieser Art. Im baden-württembergischen Pforzheim arbeitete der Kasache als Au-pair, und während er in Saarbrücken das Studienkolleg besuchte, wohnte er bei einem älteren Herrn, dem er – wie heute Adele Reese – im Gegenzug für Wohnraum praktische Hilfe angeboten hat.

Seit das Projekt vor anderthalb Jahren in Schleswig-Holstein gestartet ist, wurden rund 50 Wohnpartnerschaften erfolgreich vermittelt. Laut Koordinatorin Alexandra Dreibach steigt die Nachfrage stetig, besonders zum Semesterbeginn. Etwa 30.000 Studierende sind aktuell an den Kieler Universitäten und Fachhochschulen eingeschrieben, nur sechs Prozent von ihnen kommen in einem Studentenwohnheim unter. Der Rest muss sich anderweitig um Wohnraum kümmern.

Wer dabei hohe Ansprüche an Lage und Ausstattung hat, ist in und um Kiel herum schnell mehrere Hundert Euro im Monat los. „Die spart der Studierende, wenn er über uns ein Zimmer sucht“, so Dreibach. Aus diesem Grund könne sie auch nicht nachvollziehen, wenn kritische Stimmen warnen, die Studenten und Studentinnen könnten als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden. „Es ist ein gleichberechtigtes Geben und Nehmen. Das hat mit Ausnutzen nichts zu tun.“ Und sollte es trotz vorheriger Prüfung und Absprachen zu Problemen kommen, können beide Seiten jederzeit die kurze Kündigungsfrist von nur 14 Tagen nutzen.

Davon sind Adele Reese und Garmash Gennadiy weit entfernt. Innerhalb der vergangenen Monate haben der Student und die Seniorin sich perfekt aufeinander eingespielt. Sie kocht, er wäscht ab. Sie schneidet die Rosen, er fährt die schwere Schubkarre. Sie erzählt, er hört zu. „Vielleicht ist es einfach nur Glück, dass es bei uns so gut passt“, sagen beide.

Wenn es nach Garmash Gennadiy geht, bleibt das noch bis zum Ende seines Studiums bestehen. Adele Reese hat nichts dagegen. Die 73-Jährige sagt: „Ich glaube, man nennt das eine Win-win-Situation.“