Niedersächsische Biologin hat ein weltweit einmaliges Verfahren entwickelt, um an das „schwarze Gold“ zu gelangen

Loxstedt. Das, was Tierpflegerin Hannah Urbschat macht, ist eine Revolution: Während zwei ihrer Kollegen einen weiblichen Stör festhalten, streicht sie mit beiden Daumen immer wieder am Bauch des Tieres entlang. Aus einer Öffnung fließen Unmengen schwarzer Eier in eine Schüssel: Kaviar. Nach wenigen Minuten kommt der Stör wieder zurück in ein Wasserbecken und schwimmt dort putzmunter weiter.

Weltweit einmalig wird in Loxstedt bei Bremerhaven Kaviar von lebenden Stören gewonnen. Herkömmlich werden die Fische dafür getötet. Die Meeresbiologin Angela Köhler vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) entwickelte das nachhaltige Verfahren; das AWI ließ es weltweit patentieren. Seit einigen Wochen wird nun produziert.

Immer wieder hätten Produzenten versucht, Kaviar von lebenden Stören zu gewinnen, erzählt Köhler. Das Problem dabei: Die reifen Eier von lebenden Stören sind nicht stabil, sie verkleben bei Wasserkontakt und platzen bei der Salzzugabe. Nur unreifer Rogen, der kurz vor dem Laichen durch Schlachtung gewonnen wird, hat die nötige Festigkeit für die Weiterverarbeitung. „Die Tötung ist brutal und ökonomischer Wahnsinn“, sagt Köhler. Auch unter optimaler Haltung in der Aquakultur benötigen Störe ganze fünf bis acht Jahre, um ein erstes Mal Kaviar zu liefern.

Mit Kaviar hatte die AWI-Wissenschaftlerin eigentlich nie etwas zu tun – bis sie 2005 im Iran bei einer Schlachtung zuschaute. „Da fing es an, in meinem Kopf zu arbeiten“, sagt Köhler. Sie forschte und experimentierte mehrere Jahre. Die Lösung für eine Fischeier-Ernte von lebenden Tieren schaute sie sich in der Natur ab: Der Kaviar wird mit einer kalziumhaltigen Flüssigkeit umspült, so wie bei einer Befruchtung der Eier. Dadurch werden Enzyme im Ei aktiviert, die Kornhülle wird stabilisiert. „Die Idee lag eigentlich auf der Hand“, sagt Köhler.

Mit Unterstützung des AWI gründete sie 2010 zusammen mit einem Chemiker und einem Biophysiker das Unternehmen Vivace Caviar. Die Firma investierte sechs Millionen Euro in eine 7500 Quadratmeter große Halle und eine Produktionsanlage. In den zahlreichen Becken schwimmen nun rund 7000 Störe, die künftig pro Jahr sieben Tonnen Kaviar produzieren sollen.

Die reif geernteten Eier benötigen außer ein wenig Salz keine Konservierung

Anfragen kämen nicht nur aus Deutschland, sondern aus den USA, Asien, den Golfstaaten, Skandinavien und der Schweiz. Der Alte Gasthof auf Sylt hatte Kaviar schon längst von der Karte genommen: „Und sehr gern wieder aufgenommen, als wir vom Vivace-Kaviar hörten und kosteten. Er schmeckt wunderbar und frisch – und das alles ohne Konservierungsmittel und mit gutem Gewissen“, freut sich Gastronomin Christa Kaplan.

Denn die reif geernteten Eier benötigen wegen ihrer glatten Oberfläche außer ein wenig Salz keine Konservierung. Unreifer Rogen ist dagegen mit Blutgefäßen und Follikelzellen bedeckt. „Das ist ein Paradies für Bakterien und Pilze“, erklärt Köhler. „Damit die Ware nicht so schnell verdirbt, wird mit dem Nervengift Borax konserviert.“

150 Tonnen „schwarzes Gold“ werden weltweit pro Jahr aus Aquakultur gewonnen. Produziert wird im Iran, in Russland, China und Europa. Wildstöre dürfen schon lange nicht mehr geschlachtet werden. 1500 bis 3000 Euro muss der Verbraucher für ein Kilo der Delikatesse auf den Tisch legen, außergewöhnliche Sorten wie die vom Beluga-Stör kosten sogar 5000 Euro pro Kilo, sagt Köhler.

Tierpflegerin Hannah Urbschat massiert den eben bearbeiteten Stör nach rund einer Stunde erneut. „Beim ersten Mal kriegt man nicht alles heraus“, sagt sie. Je nach Alter und Gewicht des Tieres können 700 bis 1400 Gramm geerntet werden. „Für den Stör ist das harmlos.“