Heute vor 50 Jahren verunglückte das Frachtschiff „Pella“. Ein Hamburger Autor und Zeitzeuge erinnert sich

Amrum. Es ist ein Sommertag an der Nordsee, an dem der zehnjährige Clas Broder Hansen mit seinem Vater einen denkwürdigen Ausflug unternimmt. Von Amrum aus sind beide mit Helmuth Tadsens Ausflugsdampfer „Hansa“ aufgebrochen zu dem Schiffswrack sieben Seemeilen vor der Küste. Die „Pella“. Da liegt sie nun vor ihnen, zerbrochen in zwei Teile. Vater und Sohn sitzen am Bug. Helmuth Tadsen steuert die „Hansa“ ganz dicht an die „Pella“ heran. Dann klettert sein Matrose hinüber. Und schwupps, ist Hans Jürgen Hansen, 43 Jahre alt, hinterhergesprungen. Beinahe wäre er ins Wasser gefallen, weil Helmuth Tadsen die „Hansa“ schon zurückgesetzt hat. Wenig später erscheint der Vater wieder an der Reling des Wracks, grinst, schwenkt eine silberfarbene Laterne. Unter seinem anderen Arm klemmen ein Stapel Seekarten und etliche Signalflaggen.

Fast 50 Jahre sind seitdem vergangen. Doch Clas Broder Hansen erzählt lebendig, als wäre es gestern gewesen, als auch sein Vater zum „Strandräuber“ vor Amrum wurde. Manche nennen es Plünderer. Nun hat der Autor und Verleger, der in Hamburg-Ottensen und auf Amrum lebt, die Ereignisse zum Thema seines neuen Buchs gemacht. Titel: „Gestrandet vor Amrum – Die Geschichte der ‚Pella‘“.

Die „Pella“, ein 21 Jahre alter, 135Meter langer Frachtdampfer des kanadischen Typs „North Sands“, war am 31. Juli 1964 – also heute vor 50 Jahren – um 17.45Uhr auf den Sänden vor Amrum gestrandet und zwei Tage später auseinandergebrochen. Die Besatzung wurde gerettet. Gut 34 Jahre später lief knapp zwei Seemeilen nordöstlich die „Pallas“ auf Grund. Hansen: „Die ‚Pallas‘ ist bis heute bekannt. Die ‚Pella‘ hingegen ist zumindest auf dem Festland fast vergessen.“ Dabei sei sie das weitaus interessantere Schiff – wegen ihrer Geschichte. Und wegen vieler abenteuerlicher Geschichten.

Es sind „Strandräuber“-Geschichten. Hansen: „Anscheinend ist jeder, der auf Amrum, den Halligen oder sonst wo in der Nähe ein Boot hatte, hinausgefahren und hat irgendetwas abmontiert.“ Er hat bei der Recherche mit vielen Zeitzeugen gesprochen. Das Ergebnis ist spannend wie ein Krimi, unterhaltsam und voller Lokalkolorit.

Da erzählt Hansen etwa vom Ausflugsschiff-Kapitän August Jakobs, der mit seiner kleinen „Ambronia“ hinaus aufs Meer schippert, um sich als einer der Ersten am Wrack zu schaffen zu machen. Vorausschauend und listig hat er sein Vorhaben beim Zoll auf Amrum angemeldet und seine Beute in dreifacher Ausfertigung aufgelistet: unter anderem das Radargerät der „Pella“ und die Marconi-Funkanlage. „Wie bitte?“ Die Beamten auf dem Büsumer Zollkreuzer „Dithmarschen“, die Jakobs auf der Rückfahrt stoppen, sind erstaunt. Und machtlos. Der Versicherer der „Pella“ wird, wie sich später zeigen soll, keine Ansprüche geltend machen. Hansen erzählt vom Fischer Paul Hermann von Holdt von der Hallig Hooge und zitiert dessen Tochter Michaela: „Das Strandräuberblut ist in den Jungs wach geworden. Meine Mutter aber war verärgert, weil sie immer wieder nachts loszogen.“

Er erzählt von zwei Jungen, die mit dem Schlauchboot hinausfahren, um Rothmans King-Size-Zigaretten und Black-&-White-Whisky von der „Pella“ zu holen. Und er erzählt vom Sylter Bäckermeister Paul Raffelhüschen, der mit der ganzen Belegschaft im Rettungsboot „Frauke von Sylt“ zur „Pella“ fährt, um Zigaretten von Bord zu holen. Als ein Polizeiboot auftaucht, werfen die Männer die Beute über Bord. Zunächst wollen die Polizisten alle mit zum Verhör nach Husum nehmen, „dann hätte es aber beim Bäcker auf Sylt am nächsten Morgen keine Brötchen gegeben“. Später wird Raffelhüschen bemerken, dass er auch seine eigenen Zigaretten, verzollt und versteuert, ins Wasser geworfen hat.

Grundsätzlich, hat Hansen recherchiert, ist das Plündern in den Tagen und Wochen nach der Havarie natürlich illegal. Doch die Behörden wissen nicht so recht, wie sie sich verhalten sollen – die „Pella“ liegt außerhalb der Dreimeilenzone in internationalen Gewässern. Und mancher, der an einem Tag offiziell mit einem Behördenboot hinausfährt, mag sich schon am nächsten mit einem privaten Boot auf zum Wrack machen. Ohnehin sind die Amrumer seit Jahrhunderten der Meinung, „Strandgut gehöre dem, der es findet, und Gott möge unseren Strand segnen“. Trotzdem meinen sie heute, das meiste hätten die Büsumer Fischer und „die Halligleute“ von der gestrandete „Pella“ mitgenommen. Die Büsumer sehen das naturgemäß ganz anders.

Aber es sind nicht nur solche Geschichten, die Clas Broder Hansen in seinem Buch erzählt. Auch der Geschichte der „Pella“ ist er nachgegangen. Am 27. März 1943 war sie in der kanadischen Kleinstadt Sorel als „Elm Park“ vom Stapel gelaufen. Im Zweiten Weltkrieg war sie vom Angriff deutscher U-Boote bedroht, nach dem Krieg kauften griechische Reeder das Schiff, es wurde ausgeflaggt. Zuletzt fuhr die „Pella“ unter libanesischer Flagge, die Besatzung um Kapitän Lampros Matthaios, 37, kam von der griechischen Insel Chios, nur Funker Tet Jonker war ein Holländer, der Dostojewski las.

Und: Warum kam das mit Eisenerz beladene Schiff, das im spanischen Cartagena abgelegt hatte und nach Bremen sollte, so deutlich vom Kurs ab?

Clas Broder Hansen hat sein Buch auch in seinem Haus auf Amrum geschrieben. Dort steht ein Erinnerungsstück an einen Bootsausflug im Sommer 1964: eine silberfarbene Laterne.

„Gestrandet vor Amrum“, 100 S., ist im Urbes Verlag, Hamburg, erschienen und kostet 9,95 Euro.