In der Lüneburger Frommestraße bricht der Boden jedes Jahr um 17 Zentimeter ein. Zwei Häuser sind schon abgerissen

Lüneburg. Ein Auto ist auf dieser Straße seit mehr als drei Jahren nicht mehr gefahren. Wo einst weiß verputzte Gründerzeitvillen standen, wächst jetzt Löwenzahn aus einem Haufen Schutt. Der schwarze Asphalt wellt sich, platzt auf, bröckelt auseinander. Hier, an Lüneburgs Frommestraße, sackt der Boden um 17 Zentimeter pro Jahr ab. So viel wie nirgendwo sonst in der Stadt. Das macht über kurz oder lang auch unter der Erdoberfläche Probleme: im Kanalnetz.

Lüneburg liegt auf einem Salzstock, mehr als 1000 Jahre wurde hier Sole aus dem Untergrund geschöpft, weiße Körnchen daraus gesiedet und nach halb Europa verkauft. Was einige Lüneburger hat hohe Patrizierhäuser bauen lassen, holt sie heute ein. Der Boden rund um den Salzstock senkt sich, weil Grundwasser Salz und Gips löst, Hohlräume entstehen und die Erde nachrutscht. In der Altstadt ist das romantisch, weil die Handwerkerhäuser krumme Balken haben. In der Frommestraße war das gefährlich, weil zwei Gründerzeitbauten einzustürzen drohten. Vor zwei Jahren ließ die Stadt ein Dutzend Wohnungen erst unter Polizeieinsatz räumen und dann Stein für Stein abtragen.

An einen Neubau ist nicht zu denken. Eine Baugenehmigung will im Rathaus niemand ausstellen, zu wenig wissen die Fachleute darüber, wie sich die Senkungen entwickeln werden und warum sie überhaupt auf einmal so stark geworden sind. Maximal 1,50 Meter war der Boden zwischen 1946 und 2006 abgesackt. 2008 hieß es bei der Vorstellung eines Bauprojekts neben den Villen noch, der Untergrund sei „gut tragfähig“. Der Gutachter hatte sich getäuscht. 2009 senkte sich der Boden auf einmal doppelt so viel wie vorher. Die Geräte maßen erst 13, dann 17 Zentimeter pro Jahr. Abschließend erklären kann den Sprung bisher niemand.

Zwischenzeitlich zum Anti-Gentrifzierungs-Zentrum, Camping-Dauerdemoplatz und Freiluftwohnzimmer junger Leute geworden, ist es heute ruhig um die Frommestraße und den angrenzenden Park. Das über Monate besetzte Grundstück hat die Stadt ordentlich mit einem grünen Gartenzaun abgegrenzt, die Spruchbänder, Flaggen und mit Parolen besprühten Bettlaken sind verschwunden. Jetzt blühen Rosen am Zaun, es gibt einen sauberen Schaukasten für Infoblätter über die Geschichte des Grundstücks. Wäre nicht ein Sofa auf dem Rasen letzter Zeuge der wilden Zeit, man würde sie an diesem beschaulichen Platz nicht vermuten. Doch unter der Erdoberfläche gibt es Probleme. Wie lange die Kanäle dem Druck des Bodens noch standhalten, ist nicht geklärt. Die Anschlüsse der abgerissenen und noch stehenden Häuser sind schon vor Jahren an andere Kanäle geschlossen worden, weil das Wasser nicht mehr abfloss. Das Rohr direkt unter der Frommestraße ist stillgelegt und mit Beton verfüllt. Doch gegenüber, unter dem Park, liegen die Kanäle, von denen der gesamte Westen der Stadt Lüneburg abhängt.

„Es scheint zwar, als sacke der Erdkörper um die Rohre herum ab. Aber teilweise sacken die Rohre auch mit.“ So erklärt es jedenfalls Klaus Niemann, bei der Lüneburger Abwassergesellschaft für das Kanalnetz zuständig. Durch die Senkungen können Unterbogen in der eigentlich geraden Linie zwischen zwei Punkten entstehen, die Folge: Es sammeln sich Wasser und Fäkalien in der Delle. Außerdem ändert sich die Länge des aus vielen Einzelrohren bestehenden Kanals. Und an den Muffen kann es undicht werden, Schäden und Risse können entstehen – und Abwasser versickert im Erdreich. In einer Stadt ohne Chemiefabriken wäre das zwar kein Drama, unerwünscht aber dennoch.

„Wir müssen zwar nicht sofort tätig werden, über kurz oder lang aber sehr wohl“, sagt Ingenieur Niemann gegenüber dem Abendblatt. Regelmäßig prüft die Abwassergesellschaft die Kanäle mit kleinen Kameras, sucht nach undichten Stellen und testet, ob das Gefälle noch stimmt.

Sobald die Politik grünes Licht gibt, soll eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden, die die technischen Möglichkeiten aufzählt, von Sanierung über großräumige Umleitung. Dann müssen Klaus Niemann und seine Kollegen den gesamten Generalentwässerungsplan der Stadt überarbeiten. Ein bisschen wie im Westen Deutschlands sei das, sagt der Ingenieur. Er meint die Bergbaugebiete.