Der Niedersächsische Landtag will die Folgen des Radikalenerlasses aufarbeiten. Er galt ab 1972 für Bewerber für Jobs im öffentlichen Dienst

Hannover. Der Niedersächsische Landtag macht sich als erstes deutsches Parlament daran, ein schwieriges Kapital der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte aufzuarbeiten. Alle vier Fraktionen sind dafür, eine Kommission einzusetzen, die sich mit den Folgen des Radikalenerlasses aus dem Jahr 1972 auseinandersetzt, Unrecht beim Namen nennt und auch über Konsequenzen berät.

Das ist ein heißes Eisen auch deshalb, weil sich für Menschen mit gebrochenen Biografien wie der heute 65-jährigen Cornelia Booß-Ziegling die Frage nach materieller Wiedergutmachung stellt. 1974 wurde ihr nach dem Referendariat in Nordrhein-Westfalen die Einstellung als Realschullehrerin verweigert.

Sie war Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), hatte für den Bielefelder Stadtrat kandidiert. Es folgten drei Jahre Arbeitslosigkeit, Niederlagen durch alle Gerichtsinstanzen, schließlich der Umzug mit der Familie nach Hannover und ein deutlich schlechter bezahlter Job bei einem Suchthilfeträger. Ihre Erwartung an den Landtag: „Wir wollen nicht bedauert werden, wir wollen eine Entschuldigung, und es soll nicht vergessen werden, was hier angerichtet worden ist.“

Es war der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt, der sich damals mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer darauf verständigte, ein faktisches Berufsverbot zu verhängen für Menschen, die als Verfassungsfeinde eingestuft wurden. Das Paradoxon: Wer sich für eine in der Bundesrepublik zugelassene Partei wie die DKP engagierte, dem drohte dennoch der Rauswurf als Lehrer, Polizist, Postbote oder Bademeister.

In den Folgejahren wurden rund 3,5 Millionen Bewerber von den Einstellungsbehörden für den öffentlichen Dienst per „Regelanfrage“ bei den Verfassungsschutzbehörden auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft. Es folgten 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Ab 1976 rückte der neue Bundeskanzler Helmut Schmidt stückchenweise von dem Erlass ab und beklagte, hier werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Auch sein Vorgänger Willy Brandt kritisierte das Verhalten der Behörden bei Einstellungen. 1979 kippte der Bund für seinen Bereich den Radikalenerlass. Aber erst im Jahr 1991 ist Bayern das letzte Bundesland, das die Regelanfrage endgültig kippt. Ausgangspunkt dieser Regelanfrage war übrigens im Jahr 1971 ausgerechnet das vergleichsweise liberale Hamburg.

Auch über finanzielle Entschädigungen soll gesprochen werden

Als der Niedersächsische Landtag sich auf Antrag von SPD und Grünen vor zwei Wochen mit dem Thema befasste, saßen insgesamt acht Betroffene von damals in einer Besucherloge und erlebten, womit sie nicht gerechnet hatten: Auch die Abgeordneten von CDU und FDP sind jetzt für die Einsetzung der Kommission, die sie mit ihrer damaligen Mehrheit 2012 noch abgeschmettert hatten. Für Cornelia Booß-Ziegling, war das einstimmige Votum der Parlamentarier ein großer Moment: „Es war ein berührender, ein historischer Tag auf dem Weg zu meiner Rehabilitierung.“ Die CDU-Abgeordnete Angelika Jahns sagte: „Wir haben ein großes Interesse daran, gemeinsam mit ihnen diese Geschichtsaufarbeitung hier in Niedersachsen durchzuführen.“ Und es war Jahns, die dann ausdrücklich darauf hinwies, dass es in diesem Fall auch um die Frage von materiellen Entschädigungen gehe.

In Niedersachsen waren es 133 Personen, die damals meist als Bewerber für den öffentlichen Dienst abgelehnt oder sogar entlassen worden sind. Cornelia Booß-Ziegling könnte jetzt unschwer vorrechnen, wie viel ihr Verdienst zurückgeblieben ist und wie viel niedriger ihre Rente jetzt ausfällt, aber sie hat vor allem die Menschen im Kopf, die es noch weit schwerer hatten: „Andere haben nie wieder die Beine auf den Boden gebracht.“