Nach der brutalen Attacke auf eine 14-Jährige demonstrieren Hunderte in Wilhelmshaven gegen Gewalt. Ein Musiker sieht in der „depressiven Stadt“ den Grund für die Aggressivität von Jugendlichen.

Wilhelmshaven . Die Ordner tragen gebastelte Kreppmanschetten, auf denen in krakeliger Schrift „Ordner“ steht, das Mikrofon pfeift, statt eine Stimme zu verstärken, und es sind lange nicht so viele Menschen auf den Wilhelmshavener Valoisplatz gekommen wie angekündigt. Etwa 200 haben sich hinter dem Bahnhof zur Aktion „Flashmob: Wir sind gegen Gewalt!“ versammelt. Junge und Alte, Jugendliche und ihre Eltern, sie recken die Hände gen Himmel, bilden einen Kreis und klatschen in die Hände. Sie demonstrieren gegen einen Fall von Gewalt in Wilhelmshaven, der vergangene Woche durch ein im Internet veröffentlichtes Prügel-Video bundesweit bekannt wurde. Es zeigt einen jungen Mann und eine junge Frau, beide 17 Jahre alt. Sie treten und prügeln in dem Film auf die 14-jährige Sarah ein. Für die Staatsanwaltschaft ist das ein Tötungsversuch; sie hat erst den 17-jährigen Dennis B. in Untersuchungshaft nehmen lassen und jetzt auch die 17-jährige Romina T. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hat Dennis B. seine Komplizin so stark belastet, dass auch sie verhaftet wurde.

Die Fahnder ermitteln zudem gegen acht weitere Jugendliche. Sie hatten die Tat beobachtet, ohne einzuschreiten. Stattdessen existieren mindestens zwei Handyfilme, die den Überfall dokumentieren. Über soziale Netzwerke wie Facebook verbreiteten sich die Videos aus Wilhelmshaven in Windeseile. Die einstige stolze Hafenstadt, die ohnehin nicht mit einem guten Ruf gesegnet ist, geriet so deutschlandweit in die Nachrichten.

Es ist also ein wichtiger Tag für Andreas Wagner, Oberbürgermeister von Wilhelmshaven. Am Rande der klatschenden Menschenmenge gibt Wagner Fernsehinterviews. Es scheint, als wollten die Demonstranten mit dem Klatschen einen bösen Geist der Gewalt, der die Stadt zu vergiften droht, verjagen. Den bösen Bildern aus dem Prügel-Video wollen sie neue, friedliche Bilder entgegensetzen.

Wagner sagt Sätze wie: „Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens.“ Und: „Jede Form von Gewalt ist zu verurteilen.“ Er betont: Die Zahl der Gewalttaten von Jugendlichen habe sich in Wilhelmshaven seit 2008 halbiert auf 93 im Jahr 2013.

Als Beleg für das Engagement der Hafenstadt gegen Jugendkriminalität schreibt seine Pressestelle später in einer Mitteilung, dass das städtische Jugendamt Anti-Aggressivitätskurse mit „0,5 Stellen im Jugendamt und 733 eingekauften Fachleistungsstunden“ anbietet. Ist das viel oder wenig?

Wilhelmshaven weist landesweit die dritthöchste Kriminalitätsrate hinter Hannover und Hildesheim auf. An dem durch das sogenannte Prügel-Video bekannt gewordenen Fall verstört nicht nur die ungehemmte Jugendgewalt. Auch wegen der darauf folgenden Aufrufe im Internet, das Recht selbst in die Hand zu nehmen, und der vielen Gewaltfantasien mancher Kommentatoren sind viele Wilhelmshavener auf den Valoisplatz gekommen. „Aufrufe zur Selbstjustiz dulden wir nicht“, sagt Wagner. Passiert ist es trotzdem.

Kurz nach der Tat marschierten etwa 40 Leute zum Wohnhaus eines der Tatverdächtigen und schlugen die Scheiben der Haustür ein. Zuvor verabredete sich der Mob bei Facebook. Auf der friedlich intonierten Seite „Wilhelmshaven gegen Gewalt“ häuften sich schnell hasserfüllte Kommentare, die forderten, die Täter zu verprügeln, totzuschlagen oder ins Gesicht zu treten.

Im Internet kursieren derweil Namen und viele Gerüchte. Die beiden Täter und das Opfer sollen sich gekannt haben. Es gab möglicherweise eine aus dem Ruder gelaufene Dreiecksbeziehung zwischen den beiden Frauen und dem jungen Mann. Auch von im Internet veröffentlichten Nacktbildern der drei Jugendlichen ist die Rede.

Der Wilhelmshavener Rapper „Punch Arogunz“ konnte nicht glauben, was da alles stand. Er veröffentlichte einen Kommentar, in dem er mehr Nachdenklichkeit forderte. Benjamin Posern, wie er bürgerlich heißt, sucht nach Erklärungen für das schlechte Image seiner Heimatstadt. Benjamin hat 111.000 Freunde bei Facebook, 4500 davon kommen aus Wilhelmshaven.

Er hat einen Namen, die Leute kennen ihn. Und er kennt viele seiner jugendlichen Fans. „Wilhelmshaven ist eine tote Stadt“, sagt er. Es hänge eine beinahe depressive Stimmung über den Straßen und Häusern. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, sie liegt bei 12,5 Prozent, und Gewalt sei durchaus ein Thema, sagt der 22-Jährige. „Solche Taten passieren sicher häufiger in Wilhelmshaven. Nur wegen des Videos sind jetzt alle so aufgebracht“, sagt er.

Wie geht es weiter in Wilhelmshaven? „Die richtige Frage ist, was wir tun können“, sagt der Rapper. „Nicht mobben, nicht zuschlagen, solidarisch sein. Auf der schmalen Fußgängerbrücke, auf der Sarah am 5. Mai so getreten und geschlagen wurde, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste und die Staatsanwaltschaft von einer versuchten Tötung spricht, liegen Blumen, Briefe und ein Teddy. „Werde bald wieder gesund, Sarah“, schreibt eine Kim.

Am Tag der Anti-Gewalt-Demonstration auf dem Valoisplatz stand in der „Wilhelmshavener Zeitung“, dass ein 18-Jähriger von zwei Männern überfallen wurde, die ihn zu Boden gedrückt, mit einem Messer bedroht und sein Handy geklaut haben. Als er der Forderung nicht nachkam, schlug ihm einer der Täter ins Gesicht, während der andere ihn festhielt. Die Tat wurde nicht gefilmt und ins Netz gestellt. In die bundesweiten Nachrichten schaffte es der Überfall auf den 18-Jährigen nicht.