Rentner angeklagt, weil er 2010 einen jugendlichen Einbrecher von hinten erschossen hat. Anwalt spricht von Notwehr

Stade. Der Angeklagte hält sich einen Aktenordner vor sein Gesicht. Er stützt sich auf eine Krücke, als er den Verhandlungssaal im Landgericht Stade betritt. Kameras sind auf ihn gerichtet, Fotoapparate blitzen. Nach den tödlichen Schüssen auf einen jungen Räuber muss sich der sichtlich angeschlagene 80-Jährige dort seit Mittwoch wegen Totschlags verantworten.

Die Anklage wirft dem Rentner vor, 2010 den 16-jährigen Labinot S. erschossen zu haben. Der Junge und drei Komplizen hatten den alten Mann in seinem Haus überfallen. Beim Öffnen des Tresors ging der Alarm los, in der Verwirrung griff sich der Jäger eine Pistole und erschoss den flüchtenden 16-Jährigen. Das Gericht soll nun prüfen, ob die Tat als Totschlag zu werten ist.

Im Kern geht es im Prozess um die Frage, ob der Senior vor dreieinhalb Jahren, wie es der Anwalt sagt, in Notwehr handelte, als er bei dem Einbruch in sein Haus in Sittensen einen der fliehenden Einbrecher von hinten erschoss. In Notwehr handelt ein Mensch, wenn er einen Angriff auf sich selbst oder auf einen anderen abwehrt. Geregelt ist das unter anderem in Paragraf 32 des Strafgesetzbuches. Dort heißt es: „Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.“ Außerdem wird in Paragraf 33 festgehalten: „Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.“

Noch bevor die Anklage verlesen werden konnte, wurde der Prozess unterbrochen, weil die Verteidigung den angeklagten 80-Jährigen für nicht verhandlungsfähig hält. Darüber soll nun bis nächste Woche ein psychiatrischer Gutachter entscheiden. Bei der Erklärung seines Verteidigers brach er in einen Weinkrampf aus.

Nach längerem juristischem Hin und Her wird dem 80-Jährigen von der Staatsanwaltschaft nun Totschlag vorgeworfen. Ein kurzfristig hinzugezogener Gutachter sagte am Mittwoch nach einer ersten Untersuchung, er könne noch nicht abschließend beurteilen, ob der Angeklagte den Belastungen der Verhandlung gewachsen sei.

Der Vorsitzende Richter erklärte, wenn dies nicht der Fall sei, werde der Prozess wie von der Verteidigung beantragt ausgesetzt. Nach der bisherigen Planung sollte das Verfahren eigentlich am kommenden Mittwoch fortgesetzt werden. Im freien Gespräch habe der Rentner keine Ausfälle gezeigt, sagte Psychiater Harald Schmidt. Komme aber das Geschehen während des Überfalls zur Sprache, drohe der 80-Jährige zusammenzubrechen und weine nur noch. Der Psychiater sagte auch, der Rentner habe ihm erzählt, er wäre froh, nicht mehr am Leben zu sein. Darum wolle er sich wegen seiner seelischen Leiden auch nicht behandeln lassen.

Die Angehörigen des getöteten Jugendlichen treten als Nebenkläger in dem Verfahren auf. Der Anwalt der Mutter des toten 16-Jährigen sagte, der Rentner sei vor ein bis zwei Monaten noch in der Lage gewesen, längere Autofahrten zu unternehmen und seinen Rasen zu mähen. Demgegenüber verwies der Verteidiger des 80-Jährigen darauf, dass sein Mandant bei dem Überfall ein Trauma erlitten habe.

Eine Nebenklage-Vertreterin schlug vor, bei der eventuellen Fortsetzung des Verfahrens die Öffentlichkeit auszuschließen. Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen gegen den Senior 2011 zunächst eingestellt, weil sie davon ausging, dass er in Notwehr handelte. Dagegen hatte die Familie des Getöteten aber Beschwerde eingelegt.

Die Staatsanwaltschaft klagte den Schützen daraufhin wegen Totschlags an, doch das Landgericht Stade lehnte die Eröffnung einer Hauptverhandlung ab. Die Angehörigen legten erneut Widerspruch ein und das Oberlandesgericht in Celle entschied schließlich: Es muss verhandelt werden, der Fall könne nicht nach Aktenlage beurteilt werden.

Für den Überfall waren die Komplizen des Erschossenen, junge Männer im Alter von knapp über 20, von einer anderen Strafkammer des Stader Landgerichts bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Eine 21 Jahre alte Frau wurde wegen Anstiftung zu der Tat zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.