Die Küstenländer sind der Motor der Energiewende. In Hamburg beraten am Freitag die norddeutschen Länderchefs mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel über den Ausbau der Windparks. Eine Bestandsaufnahme

Als Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) Ende Februar den Grundstein für den neuen Energie-Campus Hamburg legte, lieferte Werner Beba das passende Etikett: „Wir wollen hier in Bergedorf ein Silicon Valley für die erneuerbaren Energien schaffen“, sagte der Professor der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). „Silicon Valley“, das ist ein großes Wort. Es steht für die Wiege der modernen Informationstechnologie. In der kalifornischen Metropolregion zwischen den Städten San Francisco und San José haben Unternehmen wie Apple, Dell, Cisco, Google, Yahoo oder Facebook die Welt mit der Entwicklung von Kleincomputern, Internet, Suchmaschinen, mobilen Endgeräten und sozialen Netzwerken in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert.

Ähnlich bahnbrechende Folgen dürfte auch die Energiewende in Deutschland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten haben. Beba weiß, dass dieser hoch komplexe Prozess Bilder und Symbole braucht, damit die Menschen dessen Herausforderungen, die Fortschritte und vor allem den Nutzen erkennen: „Der Energie-Campus in Bergedorf soll die Machbarkeit der Energiewende zeigen“, sagt der frühere Medienmanager, der an der HAW heutzutage eine Professur für Marketing innehat und der das neue Competence Center für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz (CC4E) an der Hochschule leitet. Ende 2014 sollen Professoren und Studenten die Arbeit am Energie-Campus aufnehmen.

Norddeutschland kann seine Wirtschaft und Infrastruktur mit der Energiewende kräftig voranbringen. Die Regierungschefs der Küstenländer wissen, dass die Windkraft an Landstandorten, vor allem aber in Offshore-Parks auf dem Meer in Deutschland das größte Potenzial im Vergleich der regenerativen Energien besitzt. Am morgigen Freitag treffen die Ministerpräsidenten und Bürgermeister von Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im Hamburger Rathaus Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel (SPD). Sie wollen mit ihm die anstehende Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) diskutieren, aber auch, wie der Norden mit Windenergie zum Kraftwerk für ganz Deutschland werden kann.

Der Umbau der Energiewirtschaft in Deutschland, der Umstieg von fossilen Energien und Atomkraft hin zu erneuerbaren Energien ist in vollem Gange. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden, überwiegend subventioniert von den Stromverbrauchern, Hunderttausende Solarstromanlagen, Zehntausende Windturbinen und Tausende Biomasse-Kraftwerke in Deutschland neu gebaut. Das brachte enorme technologische Fortschritte bei der Erzeugung von Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien. Zur Bilanz dieser Pionierjahre zählt aber auch ein technologischer und wirtschaftlicher Wildwuchs, eine Überförderung vor allem beim Neubau von Solarstromanlagen, die in den kommenden Jahren hohe Folgekosten aufwirft. Schnell steigende Stromkosten aus der Förderung der erneuerbaren Energien aber gefährden die nach wie vor breite gesellschaftliche Zustimmung zur Energiewende. Und die ist das wichtigste Kapital beim Umbau der Energieversorgung.

In der laufenden Legislaturperiode und darüber hinaus muss es vor allem darum gehen, die erneuerbaren Energien als Gesamtsystem zu gestalten. Die Stromerzeugung aus Windkraftwerken und aus Solaranlagen schwankt mit der Wetterlage und dem Wechsel von Tag und Nacht. Die Unstetigkeit ist der größte Nachteil dieser beiden Technologien. Bei der Windkraft ist das Manko allerdings kleiner als bei der Erzeugung von Solarstrom. Denn der Wind weht auch nachts, wenn die Sonne nicht scheint. Er weht im Winter stärker als im Sommer, wenn insgesamt mehr Strom und Wärme gebraucht werden. Vor allem an den deutschen Nordseeküsten weht der Wind so stark und beständig wie nirgends sonst in Deutschland. Die größte und konstanteste Ausbeute bei der Nutzung der Windkraft erbringen Anlagen in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen. Vor allem deshalb wurden hier schon in den 80er-Jahren die Grundlagen für die moderne Nutzung der Windkraft gelegt.

Im deutschen Teil der Nordsee und der Ostsee begann in den späten 2000er-Jahren obendrein der Bau der ersten Offshore-Windparks. An den Küsten und auf dem Meer entsteht eine für Deutschland völlig neue Industrie, die mannigfaltige Hürden überwinden muss, die der Energiewende aber den entscheidenden technischen und wirtschaftlichen Schub verschafft. In der Verbindung von Windkraftwerken an und vor den deutschen Küsten wächst eine Infrastruktur, die das immense Potenzial des Windes im großen Umfang verlässlich nutzbar macht. Ein Windkraftwerk an Land in Schleswig-Holstein läuft im Jahr mit bis zu 2605 Volllaststunden, ergab eine Studie des Analyseunternehmens Deutsche WindGuard. Volllaststunden beschreiben die Zeit, in der ein Kraftwerk mit voller Nennleistung läuft. In Niedersachsen erreichen Windturbinen bis zu 2146 Volllaststunden, im Durchschnitt für ganz Deutschland sind es 2071. Offshore-Windparks auf der Nordsee, das ergaben die Auswertungen des ersten deutschen Offshore-Parks Alpha Ventus seit 2010, erbringen schon in der Frühphase dieser Technologie rund 4500 Volllaststunden. Etwa 3800 bis 4000 sind es beim Ostsee-Windpark EnBW Baltic 1 vor Rügen.

Mit jeder neuen Generation von Windturbinen lässt sich die Kraft des Windes noch besser und präziser einfangen und in Strom umwandeln, an Land wie auch auf See. Die bessere Aussteuerung der Maschinenhäuser in böigen Winden, die Verbesserung und Vergrößerung der Rotorblätter und andere Innovationen ergeben bei neuen Modellen 15 bis 20 Prozent mehr Ausbeute gegenüber dem Vorläufer. Zwischen drei und 25 Meter Windgeschwindigkeit je Sekunde nutzen moderne Windturbinen, das entspricht zwischen zwei und zehn Windstärken auf der Beaufort-Skala, zwischen leichter Brise und schwerem Sturm. Selbst Orkan-Wetterlagen wie das Sturmtief „Xaver“ können moderne Windparks in Strom umwandeln: Als „Xaver“ in der Nacht zum 6. Dezember 2013 über den Norden fegte, wurden bis zu 40 Prozent des deutschen Stromaufkommens aus Windturbinen erzeugt.

Gerade extreme Stark- und Schwachwindlagen aber zeigen, dass auch die Windkraft einen Ausgleich benötigt, wenn sie mehr und mehr zu einem Fundament der Energieerzeugung in Deutschland werden soll. Ende 2013 waren in ganz Deutschland rund 23.600 Windturbinen installiert. Sie erzeugten gut neun Prozent des gesamten Stroms. Es hätte noch deutlich mehr sein können, wäre die Windenergie heute schon in großem Umfang speicherbar. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden die erneuerbaren Energien in das bestehende System der Energieversorgung hineingebaut. Als Basis, als jederzeit abrufbare Energiequelle, dienen nach wie vor Kohle-, Atom- und Erdgaskraftwerke. Wenn hingegen die erneuerbaren Energien zur Grundlage werden sollen, müssen neue Netze und große Energiespeicher geschaffen werden, die auf dieses System vieler dezentraler Kraftwerke zugeschnitten sind. „Die Ziele der Energiewende sind und bleiben sehr ehrgeizig. Entscheidend ist jetzt vor allem auch die technologische und gesellschaftliche Transformation des Energiesystems“, sagt Werner Beba von der HAW. „Die Systemfrage, auch die des Marktsystems, ist jetzt vordringlich.“

Sonnen- und Windkraftwerke gleichen sich durch ihre Verteilung über das gesamte Land in ihren Stromerträgen teils gegenseitig aus. Zusätzliche Stabilität schaffen Wasserkraftwerke und die Nutzung der Biomasse, vor allem Agrarrückstände und Holz. Aber ohne eine viel genauere Abstimmung von Stromangebot und -nachfrage wird es in einem System erneuerbarer Energien nicht gehen. Entscheidend dafür sind hoch leistungsfähige Netze, die neben dem Strom künftig zunehmend auch Steuerungs- und Verbrauchsdaten transportieren werden.

Unverzichtbar sind außerdem Energiespeicher. „Eine ganz neue Qualität und wirkliche Schlagkraft entsteht durch die Verbindung von Windparks an Land und auf See. Das kann in Deutschland nur der Norden leisten“, sagt Michael Fröba, Professor am Fachbereich Chemie der Universität Hamburg, dessen Spezialgebiet die Energiespeicherung in Feststoffen ist. „Die Kombination von Windparks an Land und auf dem Meer wird die Erträge aus Windkraft erheblich verstetigen. Wind wird damit grundlastfähig bei der Stromversorgung. Obendrein entstehen große neue Potenziale etwa zur Erzeugung von Wasserstoff, von Fernwärme, von Strom für Batterien oder zur Speicherung in Druckluftspeichern.“

Es gibt etliche Möglichkeiten, Strom zu speichern, von der kleinen Batterie bis zum großen Pumpspeicherkraftwerk wie etwa der Anlage in Geesthacht an der Elbe. Völlig neue Dimensionen bei der Energiespeicherung allerdings verspricht die Erzeugung von Wasserstoff und künstlichem Erdgas. Per Elektrolyse, zum Beispiel mit Strom aus Windkraftwerken, wird Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt.

Wasserstoff kann als Energie für Turbinen oder Brennstoffzellen genutzt werden. In der Verbindung mit Kohlenstoff, etwa aus den Abgasen von Kohlekraftwerken, lässt sich obendrein synthetisches Erdgas erzeugen und in das bestehende Erdgasnetz einspeisen.

Auch die Erwärmung von Wasser für Fernwärmesysteme bietet einen großen Speicher für Windenergie. Norddeutschland hat dafür ideale Bedingungen, sei es durch geologische Formationen zur Gasspeicherung, sei es zur Erzeugung von Fernwärme aus Windkraft etwa im Wilhelmsburger Energiebunker von Hamburg Energie. Vor allem aber hat der Norden Windkraft in reichem Maße. „Die Windkraftbranche schafft neue Möglichkeiten für ganz Norddeutschland“, sagt Hamburgs Wirtschaftssenator Frank Horch (parteilos). „Die Speicherung etwa von Wasserstoff aus Windstrom, die Erzeugung von synthetischem Methan bieten völlig neue Perspektiven.“

Die Energiewende ist in vollem Gange. Vor allem mit der Windkraft hat Deutschland eine enorme Energiequelle. Auch im Süden, in Bayern und in Baden-Württemberg, gibt es etliche Pläne für den Bau von Windparks, um zu den nördlichen Bundesländern aufzuschließen. Anders als im Norden aber blickt man bei der Windkraft im Süden nicht auf eine lange Historie. Und die von Wäldern und Mittelgebirgen geprägte Landschaft in Süddeutschland birgt ein deutlich größeres Konfliktpotenzial bei der Installation von Windturbinen als die norddeutschen Küsten. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) will im Freistaat einen Mindestabstand von 2000 Metern zwischen Siedlungen und Windparks durchsetzen, derzeit beträgt der Abstand zumeist 800 Meter. Wird das Gesetz, können die meisten Windparkprojekte in Bayern nicht mehr realisiert werden, auch diejenigen nicht, die bereits weit fortgeschritten sind. Ohne Windstrom-Importe aus dem Norden wird Bayern nach der Abschaltung der letzten Atomkraftwerke in den kommenden Jahren nicht auskommen, schon gar nicht ohne nennenswerte eigene Windparks. Um Atomkraftwerke im Süden zu ersetzen „gibt es nur den Offshore-Strom, der in der Lage ist, die erforderlichen Mengen 24 Stunden am Tag zu liefern“, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). „Das ist Energie aus dem Norden für den Süden.“

Die Windkraft des Nordens ist der Motor der Energiewende in Deutschland: beim Bau von Windturbinen und der Erzeugung von Windstrom, bei der bedarfsgerechten Übertragung und der Speicherung erneuerbarer Energie, bei der Weiterentwicklung der Technologien und der Senkung der Preise für „grünen“ Strom. So wird das „Kraftwerk Küste“ zum Energielieferanten für das ganze Land.

Das neue Buch „Kraftwerk Küste. Wie der Wind den Norden stark macht“ von Abendblatt-Redakteur Olaf Preuß mit einem Vorwort von Professor Dr. Claudia Kemfert erscheint am 7. März beim Wachholtz Verlag, Neumünster/Hamburg. 16,90 Euro, 184 Seiten, ISBN 978-3-529-05396-2