Vor zwei Jahren am Heiligen Abend stand die damals Siebenjährige beim Krippenspiel in der katholischen Kirche St.Johannes plötzlich in Flammen. Die Narben erinnern sie jeden Tag daran.

Blunk. Es ist ein schlimmer Jahrestag für ein Unglück: Der Heilige Abend. Vor zwei Jahren passierte es in der katholischen Kirche St.Johannes der Täufer in Bad Segeberg. Die heute neunjährige Lena fing Feuer. Ihr Kostüm vom Krippenspiel – sie hatte ein Schaf dargestellt – entzündete sich an einer der Kerzen, die am Ausgang an die Besucher verteilt werden sollten. Große Teile der Haut wurden verbrannt, das Mädchen schwebte in Lebensgefahr. Nur durch das beherzte Eingreifen eines Gottesdienstbesuchers konnte das Schlimmste verhindert werden. Er erstickte die Flammen mit einer Jacke.

„Weihnachten ist einer der schönsten und gefühlvollsten Momente, und das ist für uns plötzlich zerstört worden“, sagt Lenas Mutter Gisela B., 47. Ausweichen könne sie der Erinnerung an die Ereignisse vor zwei Jahren nicht. „Alle haben nur noch dieses Thema und du denkst, das muss ich jetzt nicht haben. Man kann aber auch nicht verlangen, dass sich deswegen die Welt ändert. Man muss da durch und ist froh, wenn Januar ist.“

Weihnachten ist seit den Ereignissen vor zwei Jahren in Lenas Familie ein schwieriges Thema. „Das ruft eine ganze Menge Erinnerungen hervor, die man nicht haben will“, sagt Lenas Vater Ralph B., 55. Im geräumigen Resthof der Familie ist kein Weihnachtsschmuck zu entdecken. Kein Tannenbaum, kein Adventskranz und keine Kerzen. Hier wohnt Lena mit ihren Eltern, ihrer 16-jährigen Schwester Hanna, mit Hund und zwei Katzen. Im Stall stehen ein Pferd und zwei Ponys, eines gehört Lena.

An Weihnachten erinnert hier nur die Dose mit Plätzchen, die Lena aus der Küche holt und auf den Tisch stellt. Selbst gebacken und mit allerlei Verzierungen. „Das ist ein Mädchen“, erklärt sie zu dem Teddy mit einer rosa Perle am Kopf. „Das ist doch eine Schleife, logisch.“ Lena ist eine typische kleine Viertklässlerin. Sie ist lebenslustig und geht nicht durchs Haus, sie läuft. Und wenn sie ein wenig verlegen am Tisch mit den erwachsenen Besuchern sitzt, dann spielt sie so lange mit der Kette um ihren Hals, bis sich Teile davon lösen und über den Tisch fliegen. Ein ganz normal verspieltes Kind, dem man gleichwohl die Folgen des Unfalls deutlich ansieht.

Zum Beispiel um den Mund: Wenn Lena ihr verschmitztes Lächeln aufsetzt, strahlt sie trotz der Narben, die sie ihr Leben lang begleiten werden. Zum Beispiel am Hals: Dort sorgt eine Halskrause dafür, dass Lena den Kopf oben hält. „Wenn wir sie weglassen, dann ziehen die Narben den Hals nach unten“, erklärt Gisela B. Und die Halskrause allein reiche nicht. Sie holt zwei weitere Teile, die zu Lenas nächtlichen Begleitern geworden sind: Eine starre Halskrause und eine durchsichtige Maske, die andere Kinder höchstens zur Verkleidung im Fasching tragen würden. Bei Lena ist es ernst. Sie trägt sie jede Nacht. „Sie ist sehr tapfer, sie macht alles gut mit“, sagt Gisela B. Zu Halskrause und Maske gesellen sich Kompressionshose und Kompressionshandschuhe. „Narben müssen platt gedrückt werden. Sie ziehen sich sonst zusammen.“

„Sie hat Glück im Unglück gehabt. Sie kann laufen, spielen, reiten, Unsinn machen, und sie ist lustig. Manchmal ist sie frech. Das ist alles gut“, sagt Vater Ralph B. Zwar muss Lena jeden Tag zweimal eingecremt werden und alle zwei Tage zur Physiotherapie, eine große Belastung für die Neunjährige wie für die Mutter, für die an einen Wiedereinstieg in den Beruf als Tierärztin derzeit nicht zu denken ist. Aber Ralph B. vergisst nie die positiven Aspekte wie die des Reitens: „Einmal Reiten ersetzt eine Massage an den Beinen.“ Der Ehrgeiz seiner Tochter sei sehr wichtig gewesen. Heute reitet sie wieder auf dem eigenen Pony Turniere. Das stärkt Körper und Seele.

Die Familie ist extrem wichtig für traumatisierte Kinder

Dass Normalität die beste Therapie ist, betont auch Joachim Walter vom Hamburger Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Der Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie verweist auf die herausragende Rolle der Familie, in der traumatisierte Kinder wieder in die Welt finden können. Gleichzeitig müssten Kinder wie Lena lernen, mit dem Besonderen, mit ihrer entstellenden Behinderung umzugehen. „Sie müssen lernen, angesprochen zu werden und aktiv auch andere anzusprechen.“ Für Lena ist derzeit ihre vierte Klasse an der Heinrich-Rantzau-Schule in Bad Segeberg neben der Familie die beste Stütze. „Sie stehen voll hinter Lena“, sagt Gisela B.

In der Schule kommt die Neunjährige gut mit, auch wenn sie immer mal wieder früher nach Hause muss. Und auf welche Schule will sie im Sommer wechseln? Lena druckst ein wenig herum: „Mama, sag jetzt nichts.“ Die Mutter lächelt, es scheint ein typisches Spiel zu sein, das die beiden da miteinander treiben. „Ich sag ja gar nichts.“ Und welche Schule soll es nun sein? „Ich will aufs Gymnasium“, sagt Lena. Mit den Worten „Wir warten erst einmal die Empfehlung ab“, beendet der Vater die Diskussion – ein typisches Gespräch in Familien von Viertklässlern und wieder ein Stück Normalität.

Lena hat allerdings noch einen beschwerlichen Weg vor sich. Insbesondere in der Pubertät, wenn sich die Jugendlichen verändern und gleichzeitig neu erkennen, wie es der Psychologe Joachim Walter ausdrückt. „Hier findet das ,Wie bin ich?‘ sehr viel vor dem Spiegel statt“, sagt er. „Sie stellen sich die Frage ,Kann ich mich lieben oder können die anderen mich lieben?‘“ Viele Jugendliche, die durch Brandverletzungen entstellt sind, würden das schaffen, betont er. Glücklicherweise sei die Medizin mittlerweile weit fortgeschritten. „Die Kinder und Jugendlichen werden immer wieder zur plastischen Chirurgie gehen müssen“, ergänzt Axel Hennenberger, Chefarzt in der Abteilung für schwer brandverletzte Kinder am Wilhelmstift. „Die Brustentwicklung ist bei Mädchen ein Riesenproblem.“ Vonseiten der Medizin müsse man da vor allem darauf achten, dass die Behandlungen schmerzfrei bleiben. Bis sie ausgewachsen ist, wird auch Lena immer wieder operiert werden müssen, die transplantierte Haut wächst nicht nach.

Unbeschwert Weihnachten feiern, das werden sie wohl nie wieder können

Die Familie hat nach den eigenen schrecklichen Erfahrungen ein wichtiges Anliegen: Es soll keinem Kind mehr das passieren, was Lena passiert ist. „Wir wollen keine Chance auslassen, daran zu erinnern, dass Kinder, Kerzen und Feuer nicht zusammengehören“, sagt Ralph B. Auch wenn jeder Pressetermin schwer sei und in der Familie diskutiert werde. Es sei ihnen wichtig, dieses Thema nicht zu vergessen, sagt er, springt vom Tisch auf und holt elektrische Kerzen. Nur solche brennen bei Familie B. „Das wirkt doch wie eine echte Kerze. Wollen Sie mal riechen?“ Die LED-Kerze riecht wie Bienenwachs. „Es gibt sogar schon welche, die man auspusten kann“, sagt Gisela B. und lächelt.

Ob die Familie jemals wieder unbeschwerte Weihnachten feiern kann? Derzeit glauben sie nicht so recht daran. In diesem Jahr war es ein eher kleines Familienfest – aber natürlich mit Geschenken. Nur Lena, Hanna und die Eltern. „Irgendwie ist es anders schön“, sagt Ralph B. „Wir werden nie wieder die Normalität und Naivität erreichen können wie zuvor. Wir sind auf dem Weg dahin und wollen so dicht wie möglich an die Normalität heran, die man erreichen kann.“