Weihnachten ist ein Fest des Aufbruchs – besonders für den Theologen. Der 62 Jahre alte Gerhard Ulrich zieht am 3. Januar von Schleswig nach Schwerin.

Rendsburg. Einmal im Jahr geht Gerhard Ulrich, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, zum Schleswiger Weihnachtsmarkt. Am liebsten stellt er sich dort an einen Glühweinstand, wo der Verkäufer alle seine Kunden fragt: „Mit Schuss?“

Bald versammelt sich eine Menschenmenge um den Geistlichen. Es geht in den Gesprächen freilich nicht um Glühwein, sondern um Gott. „Die Besucher sprechen mich schnell an. Sie thematisieren sofort den Glauben“, sagt Ulrich.

Gerade in der Weihnachtszeit sind die Norddeutschen auf besondere Weise religiös gestimmt. Bischof Ulrich, oberster Repräsentant von 2,2 Millionen evangelischen Christen im Norden, beobachtet das in diesen Tagen immer wieder. Die Menschen suchen nach besonderen Erfahrungen. „Ihre Seelen sind offen und aufgeraut“, sagt er. Die Deutschen zünden überall Lichter an, schmücken ihre Städte und Dörfer. „Ich selbst liebe die hell strahlenden Häuser, die vielen Kerzen und Lichter. Mitten in der Dunkelheit spiegelt sich der verschwenderische Geist Gottes“, sagt er.

Kurz vor dem Fest geht Ulrich noch einmal am Nord-Ostsee-Kanal in Rendsburg spazieren. Gerade hat er an einer Aufsichtsratssitzung des Diakonischen Werkes Schleswig-Holstein teilgenommen. Nun nutzt er die Mittagspause, um über seine nächsten Predigten nachzudenken. Im Hintergrund ist die imposante Kanalbrücke zu sehen; mitten auf der Wasserstraße fährt gerade ein Frachter an der Villa des Diakonischen Werkes vorbei.

Alles ist hier im Fluss und in Bewegung. Die Schiffe, die Menschen, der Himmel, der mit besonders tiefen Wolken über Rendsburg hängt. „Ich erlebe dieses Weihnachtsfest bewusst als Aufbruch“, sagt Ulrich.

Ulrich legt rund 80.000 Kilometer pro Jahr in seinem Dienstwagen zurück

Tatsächlich bricht der 62-Jährige wenige Tage nach dem Fest zu neuen Ufern auf. Am 3.Januar werden in seinem Schleswiger Wohnsitz Mitarbeiter eines Umzugsunternehmens tätig. Sie packen ein, was nicht niet- und nagelfest ist. Denn das Ehepaar Ulrich sitzt auf gepackten Koffern – und zieht komplett nach Schwerin. Dort soll – so will es die Pfingsten 2012 gegründete Nordkirche – der Landesbischof seinen Sitz haben. So heißt es an diesem Weihnachtsfest, Abschied von einem Stück Heimat zu nehmen. „Vielleicht“, fügt er hinzu, „nehmen wir ja noch unseren Weihnachtsbaum mit nach Schwerin.“

Gerhard Ulrich ist viel unterwegs. Rund 80.000 Kilometer muss er im Jahr in seinem Dienstwagen zurücklegen, schließlich reicht die Landeskirche von der Westküste bis nach Usedom. „Das Amt des Landesbischofs ist ein ambulantes Gewerbe“, scherzt er. Und verweist auf die nächsten Termine. Zum Beispiel predigt er am 1.Weihnachtsfeiertag im Lübecker Dom. Am Neujahrstag predigt er in der Dresdner Frauenkirche über die Jahreslosung 2014 „Gott nahe zu sein, ist mein Glück“ (Psalm 73,28); das ZDF überträgt diesen Gottesdienst ab 10.15Uhr.

Auf seine Predigten bereitet sich Gerhard Ulrich vor allem bei den Fahrten in seinem Dienstwagen vor. Er schaut in die Bibel, blickt aus dem Fenster. Und sieht, wie die Landschaften an ihm vorbeiziehen. Zum Beispiel die Baumalleen von Mecklenburg-Vorpommern, wo er jüngst vor einem leuchtenden Adventskranz einen atheistischen Landrat traf – und mit ihm über Gott und die Welt sprach. „Während im Westen kirchliches Handeln vielfach als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht weiter hinterfragt wird, gibt es im Osten viele Fragen und ein großes Interesse an dem, was wir tun.“

Die Menschen hätten ein Recht auf weihnachtlichen Kitsch, sagt Ulrich

Weihnachten, sagt Ulrich gern seinen Gesprächspartnern, „das ist die Zeitenwende. Mit Jesus Christus beginnt eine neue Zeit. Weil Gott Mensch wurde, wissen wir, wie wir leben können, nämlich mit dem Zuspruch: Fürchtet euch nicht.“ Die Kirche sei gut beraten, die weihnachtliche Festkultur der Menschen nicht schlecht zu reden. „Sie haben ein Recht auf Kitsch.“

Langsam senkt sich die Dunkelheit über dem Nord-Ostsee-Kanal. All die Glitzerlichter und Weihnachtsbaumkerzen beginnen zu leuchten. Ulrich steigt mit seinem Fahrer in den Dienstwagen, einen BMW. Sein nächstes Ziel: Würzburg. Dort treffen sich Predigtexperten aus ganz Deutschland. Den Heiligen Abend verbringt der Vater von vier erwachsenen Söhnen und Großvater im Kreise seiner Familie in Schleswig. Erst geht’s in die Kirche, danach treffen sich alle am großen Esstisch. Es gibt Fondue. Und ein bisschen Wehmut zum Abschied von Schleswig.