Nach 1945 stiegen viele Nazis rasch im Landesdienst auf – jetzt will der Landtag dieses peinliche Kapitel aufarbeiten

Kiel. Gewiss, es war sarkastisch, was Sozialdemokrat Wilhelm Käber 1951 im schleswig-holsteinischen Landtag sagte: „Schleswig-Holstein stellt fest, dass es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat.“ Aber es steckte eben auch eine ganze Menge Wahrheit in dieser zugespitzten Formulierung des sozialdemokratischen Oppositionsführers. Schleswig-Holstein ging 1945 rasch zur Tagesordnung über, Politik und Verwaltung hielten sich nicht lange mit der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit auf. Schon 1951 verabschiedete der Landtag ein „Entnazifizierungs-Schlussgesetz“. Das klang arg nach Schlussstrich.

Dabei war die Bilanz noch längst nicht gezogen, konnte damals noch gar nicht gezogen sein. Welche Rolle spielten Nazis beim Demokratieaufbau im Norden? Welche personellen Kontinuitäten gab es? Das will der Landtag jetzt klären lassen – 68 Jahre nach Kriegsende, 62 Jahre nach Käbers munterer Attacke auf Geschichtsklitterer. In großer Einmütigkeit beschlossen die Abgeordneten, eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Fragen in Auftrag zu geben. 300.000 Euro stehen dafür bereit. Mit einem Ergebnis wird 2017 gerechnet.

Ganz schön spät, könnte man sagen. „Dass fast zwei Generationen vergehen mussten, hat auch etwas mit der Mentalität des Verdrängens zu tun“, befand Lars Harms, der Fraktionsvorsitzende des SSW, in der sehr nachdenklich geführten Parlamentsdebatte. Jetzt sei „der Abstand für eine offene Betrachtung“ gegeben.

In einer Rede hatte der Kieler Historiker Karl Heinrich Pohl im Jahr 2006 erläutert, warum sich Schleswig-Holstein so schwergetan hat mit seiner Vergangenheit. „Im Norden Deutschlands“, so Pohl, „bildete sich relativ schnell und wirkungsvoll ein neues altes nationalsozialistisches Netzwerk. Dieses umfasste – um nur einen Teil zu nennen – das Landessozialministerium, die Spitze der Landespolizei, wesentliche Teile der Landesjustiz und sogar den Chef der schleswig-holsteinischen Staatskanzlei, der für Personalfragen zuständig war.“ Im Oktober 1947 seien bereits 70 bis 80 Prozent der Richterstellen mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt gewesen. Pohl weiter: „Der weitaus überwiegende Teil der mit den Verbrechen im Dritten Reich belasteten Juristen war bereits 1948 nicht nur wohlbestallt im Landesdienst, sondern dominierte auch die schleswig-holsteinische Justiz – und damit wiederum die juristische Aufarbeitung der Nazi-Zeit.“

In anderen Bereichen des Staates sah es nicht besser aus. Der Kinderarzt Werner Catel wurde 1954 zum Leiter der Kinderklinik der Kieler Universität ernannt. Catel war während der Nazi-Zeit an der „Kindereuthanasie“ beteiligt, die nichts Anderes war als ein gezieltes Töten behinderter Kinder. Er hatte in seiner Leipziger Klinik sogar eine „Fachabteilung“ eingerichtet, die für die Ermordung der Kinder zuständig war. An der Kieler Uni wusste man von den Taten dieses furchtbaren Mediziners – und stellte ihn trotzdem ein. 1960, als der Druck der Öffentlichkeit zu stark wurde, wurde er in den Ruhestand versetzt. Als er 1981 starb, würdigte ihn die Universität mit den Worten, er habe „in vielfältiger Weise zum Wohle kranker Kinder beigetragen“.

Auch das Erkenntnisinteresse der schleswig-holsteinischen Presse war damals eher gering. Zwar gab es nach dem Krieg zunächst einige neue Zeitungen – die alten bekamen von den Briten keine Lizenz. Aber schon 1950, so hat der Historiker Markus Oddey festgestellt, waren viele der alten Blätter reanimiert worden. Die meisten dort vorher tätigen Journalisten wurden wieder eingestellt, auch die sogenannten Schutzpersonen: ausgewählte Journalisten, die im Dritten Reich die politisch erwünschten Kommentare schreiben durften. Oddey: „Der eigene Anteil am Aufstieg und der Herrschaft der NSDAP wurde kollektiv auch in dieser Berufsgruppe verdrängt.“

Der Forschungsauftrag des Landtags erstreckt sich nicht auf die Rolle der Presse, er beschränkt sich auf die Legislative und die Exekutive. Der SSW-Fraktionschef Lars Harms ist der Ansicht, dass das Vorhaben nicht leicht werden wird. „Wir wollen kein Gefälligkeitsgutachten, das einen Bogen um peinliche Befunde macht“, sagt er. „Die Wiedereinstellung von Nazis und ihre Präsenz in den Parteien unseres Landes waren ein schwerer Nachkriegsfehler und eine Bürde für unser demokratisches Gemeinwesen.“

Der CDU-Landtagsabgeordnete Axel Bernstein sieht einen Vorteil darin, dass sich der Landtag erst jetzt der Vergangenheit stellt. „Ich glaube, es dient der Qualität, wenn Personen, die in den Fokus der Untersuchung rücken, nicht mehr unter uns sind oder zumindest nicht mehr politisch aktiv“, sagt er. „Der individuell nachvollziehbare Reflex der Rechtfertigung würde schnell die Debatte bestimmen. Aber genau darum geht es heute ja nicht. Es geht nicht um persönliche Verurteilung oder politische Bloßstellung, sondern um Erkenntnisgewinn.“

Jürgen Weber (SPD) schlägt den Bogen in die Gegenwart. „Dass historische Forschung Grundlage für Selbstvergewisserung und Munition gegen Rechtsextremismus ist, haben wir immer wieder deutlich gemacht, ganz besonders bei der großen Debatte über die Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und DVU“, sagt er.

Hätte Wilhelm Käber der Debatte des Jahres 2013 lauschen können – er hätte gewiss keinen Anlass für sarkastische Kommentare gefunden.